Der Blick auf die Frauen der Mathildenhöhe führt auch ein wenig weg von ihr, einige Kilometer südlich in den Stadtteil Darmstadt-Eberstadt. Dort trägt seit diesem Jahr eine Straße ganz neu den Namen „Elisabeth-Duncan-Weg“. Doch was hat eine Tanzpädagogin aus Amerika, wie der Erläuterung am Straßenschild zu entnehmen ist, mit der Stadt Darmstadt zu tun? Was hat sie Erinnerungswürdiges vollbracht in ihrem Leben, dass man sogar eine Straße nach ihr benennt? Und – welche Bezüge gibt es zur Mathildenhöhe?
Elizabeth Duncan war die Schwester der sechs Jahre jüngeren und berühmten Isadora Duncan, einer Tänzerin und Choreografin, die als Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes gilt. Die Schwestern, beide in San Francisco geboren, zog es zu Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin. Dort gründeten sie in Grunewald eine Internats-Tanzschule, in der junge Mädchen insbesondere musisch und tänzerisch ausgebildet wurden. Der Unterricht war kostenlos und bei der Aufnahme der Schülerinnen gab man sich international und vor allen Dingen auch sozial: „Auch Vater und mutterlose Kinder, wie Kinder von unbekannter Herkunft sind willkommen“, formulierten sie in einer Presseerklärung. Im Februar 1905 begann der Unterricht.
Während sich Isadora auf die künstlerischen Aspekte der Arbeit konzentrierte, kümmerte sich Elizabeth, die in jungen Jahren auch eine sehr talentierte Tänzerin war, um den gesamten Schulbetrieb und das Management des Internats. Sie war es auch, die nach nur einem Jahr des Bestehens, im Februar 1906, einen Verein zur „Unterstützung und Erhaltung der Tanzschule von Isadora Duncan“ gründete. Unter dem Namen „Elizabeth Duncan Gesellschaft“ bestand der Verein in München noch bis 2010, und war zu seiner Zeit der älteste Verein zur Förderung des künstlerischen Tanzes in Deutschland.
Finanziell stand das Tanz-Internat trotz einiger zahlungskräftiger Förderer auf wackeligen Beinen. Man musste das Berliner Gebäude aufgeben, zog häufig um, nach Paris und in andere provisorische Unterkünfte. Isadora übergab schließlich alles komplett in die Hände Elizabeths, die die Schule seit 1910 allein unter dem neuen Namen „Elizabeth Duncan-Schule“ leitete. In Darmstadt fand sie 1911 schließlich durch die Förderung des Großherzogs Ernst Ludwig und seiner Frau für kurze Zeit ideale Bedingungen.
„Zur berühmten Duncan-Schule kam ich in Kontakt, weil ich mich für ihre Gedanken interessierte, Kinder in einer Schule zu erziehen, die moralisch und rhythmisch hoch stand. Isadora Duncan gründete sie, aber sie war zu unpraktisch. So übernahm sie ihre Schwester und führte sie in ihrem Sinne weiter.“
Ernst Ludwig überließ Elizabeth Duncan aus seinem Besitz ein großzügiges Gelände auf der Marienhöhe in Darmstadt, auf dem 1911 das repräsentative Gebäude errichtet wurde, in das sie mit ihren Schülerinnen einziehen und ihr fortschrittliches Tanz-Internat weiterführen konnte. Der kunstsinnige Großherzog, Gründer und Förderer der Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe, hatte auch ein Herz für die moderne Tanzkunst – und vor allem für die reformpädagogische Erziehung der Kleinen ganz im Sinne der Einheit von „Körper, Seele und Geist“.
„Ich gab der Schule ein Gelände auf der Marienhöhe, und meine größte Freude war dorthin zu gehen und die Entwicklung der Kleinen zu beobachten, denn Alles, wenn auch einfach, war von Rhythmus und Schönheit durchtränkt.“
Links sehen wir Elizabeth Duncan in ihren Darmstädter Jahren. Das Bild rechts zeigt das 1910/11 erbaute Gebäude auf der Marienhöhe um die Zeit seiner Einweihung am 17. Dezember 1911, was man am festlich geschmückten Balkon und den Buchsbäumchen erkennt. Es ist die wohl älteste Postkarte und Aufnahme der Elizabeth Duncan-Schule in Darmstadt.
Nach dem Ersten Weltkrieg gelangte die Elizabeth Duncan-Schule wieder in unruhiges Fahrwasser. Man verließ Darmstadt, zog nach Potsdam, dann von 1925-1935 in die Schweiz in die Nähe von Salzburg. 1936 ging es mit der Schule nach München, wo man die bis dahin gewohnte Form eines Internats allerdings aufgab. Elizabeth Duncan starb am 1. Dezember 1948 im Alter von 77 Jahren in Tübingen, nach fast 40 Jahren ununterbrochener Schulleitung.
Viele Tanzschülerinnen von Isadora wie Elizabeth gründeten eigene Duncan-Schulen – in Frankreich, besonders viele in den USA. Sie trugen den Namen der berühmten Schwestern, der bis heute in der Tanzszene einen besonderen Klang hat, weit in die Welt hinaus und durch die folgenden Jahrzehnte. In Deutschland führt eine Münchner Dependance als Tanzstudio bis heute die Kunst und Prinzipien der Duncan-Schule weiter.
In dem ehemaligen Gebäude der Duncan-Schule in Darmstadt ist heute das Schulzentrum Marienhöhe Zuhause. Die staatlich anerkannte private Bildungseinrichtung mit Grundschule, Realschule, Gymnasium und Kolleg verfügt ebenfalls über ein Internat. Dort wohnen rund 30 Schüler und Schülerinnen von insgesamt etwa 790, die das Schulzentrum momentan zählt. Auf ganzheitliche Erziehung wird immer noch Wert gelegt. Träger ist die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, die eine Aufnahme in die Schule allerdings unabhängig von Konfession oder Weltanschauung macht.
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Nachschlag
Für den „Elisabeth-Duncan-Weg“, der den Namen Elizabeth nicht im Original übernommen hat, musste der „Kleukensweg“ weichen. Das alte Namensschild ist fett durchgestrichen, aber noch gut zu erkennen vor Ort an der Straßenecke in Darmstadt-Eberstadt. Bei einer großflächigen Überprüfung der Darmstädter Straßennamen durch eine historische Fachkommission stellte sich heraus, dass der namentlich geehrte Christian Heinrich Kleukens nachweisbar in mehreren NS-Organisationen nicht nur aktiv tätig war, sondern dort auch Karriere gemacht hat und aktiv für die NS-Ideologie eingetreten ist. Der Magistrat der Stadt Darmstadt hatte daher am 8. Mai 2019 für eine Umbenennung votiert.
Christian Heinrich Kleukens, Büchner-Preisträger von 1926, war ein sehr spätes und ein sehr kurzes Mitglied der Darmstädter Künstlerkolonie. Der Drucker übernahm 1914 die Leitung der Ernst Ludwig-Presse von seinem älteren Bruder Friedrich Wilhelm Kleukens, der diese künstlerisch zu großer Blüte geführt hatte. Die Karriere des jüngeren Kleukens unter den Nationalsozialisten erfolgte in Mainz, wo er seit 1927 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete, bevor er nach Trautheim bei Darmstadt zurückkehrte und dort seine letzten Lebensjahre verbrachte.
In einem früheren Artikel hat 23 Quer ausführlich über die Umbenennungen der Darmstädter Straßennamen berichtet. Zum Nachlesen empfohlen, zum Anklicken hier.
Zitate aus: Eckhart G. Franz (Hrsg.): Erinnertes. Aufzeichnungen des letzten Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein. Mit einem biographischen Essay von Golo Mann, Eduard Roether Verlag, Darmstadt, 1983, S. 130
Literatur: Rita Latocha: Die „Elizabeth Duncan-Schule für Tanzkunst und freie Körperbildung“ auf der Marienhöhe in Darmstadt von 1911 bis 1914. In: Kai Buchholz, Klaus Wolbert (Hrsg.): CENTENARIUM Einhundert Jahre Künstlerkolonie Mathildenhöhe Darmstadt, 1999 – 2001, Häusser-Media Verlag, Darmstadt, 1. Auflage, 2003, S. 145 – 152.
Historische Aufnahmen: Auf der Webseite des Vereins Internationaler Freundeskreis Pro Marienhöhe finden sich eine Vielzahl historischer Aufnahmen aus der Geschichte der „Elizabeth Duncan-Schule“, von der auch die zwei hier gezeigten stammen.