Emy, Ella und Ester – die Frauen der Mathildenhöhe

Ein richtiger „Männerclub“ war sie, die Künstlerkolonie Mathildenhöhe. 23 Künstler zählt man von ihrer Gründung in 1899 bis zu ihrer letzten Ausstellung in 1914 – und alle waren sie männlichen Geschlechts. So überhaupt nicht emanzipatorisch war der Aufbruch in die Moderne in Darmstadt, möchte man meinen. Doch dieses Bild einer Männerdomäne stimmt nicht so ganz. Wie die bahnbrechenden Ausstellungen zu den „Sturm-Frauen“ (2015/16) und den „Fantastischen Frauen“ der Surrealisten (2020) in der Frankfurter Schirn, entdeckt man auch in Darmstadt die „Frauen der Mathildenhöhe“. Die Kunsthistorikerin Renate Charlotte Hoffmann hat sich mit diesem bisher relativ unbeachteten Aspekt der Künstlerkolonie auseinandergesetzt und eine Fülle an Material und Namen zusammengetragen – und siehe da: Der weibliche Beitrag ist erstaunlich.

Sie waren Modelle, Schülerinnen, Assistentinnen, manche sogar als Mitarbeiterin angestellt, aber den Ruhm, Teil einer künstlerischen Avantgarde gewesen zu sein, den heimsten dann in aller Regel die männlichen Künstler ein. Die Frauen der Mathildenhöhe gerieten in Vergessenheit. Besonders interessant sind dabei die Frauenfiguren, die maßgeblich an dem Erscheinungsbild des UNESCO-prämierten Ensembles und seiner Raum- wie Gebrauchskunst mitgestaltet haben, an Objekten, die eigentlich bekannt sind als das Werk eines der bekannten Mathildenhöhenkünstler. Hinter Bernhard Hoetger, Emanuel J. Margold und selbst hinter Joseph M. Olbrich standen jedoch auch starke und beeindruckende Frauen, die ihre künstlerische Handschrift auf der Mathildenhöhe hinterlassen haben.

Die Bildhauerin: Emy Roeder und der Platanenhain

Emmy Roeder, geboren am 30. Januar 1890 in Würzburg, „war in der Bildhauerei die bekannteste Expressionistin ihrer Zeit“, so Renate Charlotte Hoffmann. Sie wurde im Berlin der Zwanziger Jahre zusammen mit so bekannten Künstlergrößen wie Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach genannt. Ihre ersten künstlerischen Schritte hat sie aber in Darmstadt auf der Mathildenhöhe gemacht, wo sie 1912 mit 22 Jahren Schülerin von Bernhard Hoetger wurde. Der Bildhauer war als Mitglied der Künstlerkolonie mit der Ausgestaltung des Platanenhains beauftragt. Die zahlreichen Kunstwerke zum Zyklus allen Lebens auf der Welt wurden allerdings nicht in Darmstadt, sondern in Fischerhude bei Worpswede angefertigt.

Dabei lieferte Hoetger zwar die Zeichnungen für seine Entwürfe, aber die Gipsmodelle für die Skulpturen fertigte Emy Roeder an, zusammen mit der in Fischerhude ansässigen Bildhauerin Amelie Breling. Wenn wir uns heute etwa die vier in den Ecken verteilten Reliefs auf dem Platanenhain betrachten, dann war es vor allen Dingen auch seine Schülerin Emy Roeder, die maßgeblichen Anteil an ihrer konkreten Formensprache und Herstellung hatte.

Emy Roeder wurde im weiteren Verlauf ihres bewegten Künstlerlebens, in dem die Nationalsozialisten 1937 eine ihrer Plastiken als „Entartete Kunst“ beschlagnahmten und sie die Kriegs- und Nachkriegszeit in Italien verbrachte, mit zahlreichen Preisen geehrt. Später hatte sie einen Lehrauftrag als Professorin in Mainz und nahm an der ersten „documenta“ 1955 teil. „Heute ist ihr Name nur noch Spezialisten bekannt“, schrieb der Tagesspiegel 2019 anlässlich ihrer Wiederentdeckung. Die im Alter viel gereiste Künstlerin starb 1971 in Mainz.

Die Kunstgewerblerin: Ella Margold und die Keksdose als Kunstwerk

Ella Margold, geboren am 19. Dezember 1886 in Wien, war die Ehefrau von Emanuel Josef Margold, der 1911 an die Darmstädter Künstlerkolonie berufen wurde und sich sein Atelier im Ernst Ludwig-Haus einrichtete. Sie wurde dort als seine technische Mitarbeiterin geführt. Die Österreicherin war, bevor sie mit ihrem Mann nach Darmstadt kam, bereits eine bekannte Textilkünstlerin, die Spitzen entwarf oder farbenfrohe Beuteltaschen. In Darmstadt sollte sie zudem Spezialistin für künstlerisch gestaltete Keksdosen der Firma Bahlsen aus Hannover werden.

Diese wurden unter anderem auf der 4. Ausstellung der Künstlerkolonie 1914 in Darmstadt angeboten. Die Firma Bahlsen hatte für die Dauer der Ausstellung extra einen Verkaufspavillon aufgebaut. Die Dosen, nur dezent am Boden mit dem Schriftzug Bahlsen versehen, wurden als Kunstobjekte und Sammlerstücke überaus geschätzt. Sie waren eine gekonnte Mischung aus Wiener Secessionsstil mit floralen und geometrischen Mustern sowie eleganten Art Déco-Motiven, die die späteren Keksdosen-Modelle schmückten. Lange galt Emanuel J. Margold als deren Gestalter, doch heute weiß man, dass seine Frau Ella an vielen Entwürfen beteiligt war und nicht wenige – vor allem als er im Ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen war – selbst entwickelt hat. Renate Ulmer, die vor Kurzem verstorbene, langjährige stellvertretende Leiterin des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt, hat dazu Grundlagenforschung betrieben, die diese Einschätzung sehr unterstützen.

Eine genaue Zuordnung der Urheberschaft wird vor allem durch die Tatsache erschwert, dass beide ihre Werke mit „E. Margold“ signiert haben. In den zwanziger Jahren trennte sich das Ehepaar, er zog nach Berlin. Ab 1928 wohnte Ella Margold mit ihren zwei Söhnen auf der Mathildenhöhe, in einer Wohnung am Olbrichweg 10, die vorher Teil der Miethäusergruppe für die 4. Ausstellung der Künstlerkolonie von 1914 war. Einige Wohnungen des damaligen Wohnkomplexes von Albin Müller hatte ihr Mann von Innen als Musterwohnung ausgestattet. Ella Margold starb am 14. September 1961 in Darmstadt. Ihr Urnengrab befindet sich auf dem Darmstädter Waldfriedhof .

Die botanische Außengestalterin: Ester Claesson und die Gartenkunst

Eines der bemerkenswertesten Frauengesichter der Mathildenhöhe ist zweifelsohne Ester Claesson. Die Schwedin, am 7. Juni 1884 geboren, war eine der ersten professionell und selbstständig arbeitenden Gartenarchitektinnen. Als Schülerin von Joseph Maria Olbrich kam sie 1905 von Wien nach Darmstadt. Sie war die einzige weibliche Mitarbeiterin im Darmstädter Büro von Olbrich (Foto oben re., die 2. von li.), der ihr Talent für die Gartenarchitektur erkannt hatte. Mit Anfang Zwanzig machte sie fortan alle gartentechnischen Zeichnungen für die Außenanlagen auf der Mathildenhöhe zu dieser Zeit, insbesondere für die Gartenterrassen des Südhangs hinauf zum Ateliergebäude der Künstler. Diese traumhaft schöne Anlage, die sich durch die heutigen mit Grün zugewucherten Privatgrundstücke vom Kleinen Glückerthaus und Haus Habich zog, ist weitgehend verschwunden.

Auch die Baudetails für die bis heute bezaubernden Gartenmauern, Terrassen und Einfassungen auf dem Gelände sind von ihr, vermutlich ebenfalls der Garten vom Oberhessischen Haus am Olbrich Weg, heute Sitz des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt. Auch für die geplante Gartenstadt „Am hohlen Weg“ in Darmstadt entwickelte sie Vorschläge. 1907 verließ Claesson Darmstadt, arbeitete bis 1913 wieder in Wien, bevor sie nach Schweden zurückkehrte und eine überaus erfolgreiche Karriere startete. Sie starb jung, mit 47 Jahren an einem Schuss ins Herz.

Wir dürfen gespannt sein auf das Buch über die Gartenkunst auf der Mathildenhöhe, das Christiane Geelhaar verfasst hat und das demnächst als Publikation vom Institut Mathildenhöhe Darmstadt im traditionsreichen Wasmuth & Zohlen Verlag erscheinen wird. Es verspricht ein Standardwerk zu werden, wie bereits die dreibändige Dokumentation über die Bau- und Sanierungsgeschichte der Mathildenhöhe, die die damalige Bauoberrätin der Stadt Darmstadt Anfang der Zweitausender Jahre herausgegeben hat. Auch für Renate Charlotte Hoffmann, die vorab Einblick in das Manuskript nehmen konnte, war Ester Claesson eine große Entdeckung.

Sie waren nicht die Einzigen

Emy Roeder, Ella Margold und Ester Claesson sind die herausragenden Frauenfiguren der Mathildenhöhe. Doch es gibt noch einige Namen mehr. So hatten die Bildhauer Ludwig Habich und Heinrich Jobst in ihren Meisterklassen nicht nur Schüler, sondern auch Schülerinnen, die später selbst interessante künstlerische Laufbahnen einschlugen: Insbesondere die Habich-Schülerin Luise Federn-Staudinger wäre hier zu nennen, eine der Pionierinnen in plastischer Kunst mit eigener Bildhauerschule in Darmstadt. Oder Christa Winsloe, Schülerin von Jobst, die eine eigene Werkstatt in den Bildhauerateliers auf der Mathildenhöhe hatte und damit ein fester Teil der Künstlerkolonie war. Andere wiederum nahmen an den Kunst-Ausstellungen teil, wie Mathilde Stegmayer, die 1908 zur „Hessischen Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst“ mit einer silbernen Medaille geehrt wurde und auch ein Atelier im Ernst Ludwig-Haus bezogen hatte, und damit Nachbarin war der beiden Brüder Kleukens und deren Ernst Ludwig-Presse sowie des Olbrich-Nachfolgers Albin Müller, dem neuen Leiter der Künstlerkolonie.

Es gab sie also, die Frauen auf der Mathildenhöhe. Und es wird Zeit, dass sie aus dem Schatten der Männer heraustreten, dass auch auf sie ein wenig die Sonne der Kunstgeschichte scheint.

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23 Quer dankt an dieser Stelle den drei Frauen Renate Charlotte Hoffmann, Dr. Renate Ulmer (in memoriam) und Christiane Geelhaar für ihre Forschungen und wertvollen Erkenntnisse zum Thema.

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