Architektur im Aufbruch zur Moderne: Applaus für das „Welterbe-Buch“

Persönliche Widmung von den Autoren – auch für Joachim Fahrwald (mi.)

Oft ist es ja so, dass man bei Lesungen das präsentierte Buch danach eigentlich nicht mehr zu kaufen braucht: Hat man doch alles bereits gehört, was noch zu lesen wäre, ist die Lektüre des Lesestoffs nur noch langweilige Kopie. Das mussten die Besucher:innen nicht befürchten, die am 10. Juni zur Buchvorstellung ins Darmstädter Haus der Geschichte am Karolinenplatz kamen. Dazu ist der Fundus an Geschichten und Bildern einfach zu groß, der sich über viele Jahrzehnte des Einsatzes und der Leidenschaft für ihr Thema angesammelt hat: Weltkulturerbe Mathildenhöhe Darmstadt, der erste Bildband über das neue Mitglied der großen weltweiten UNESCO-Familie, wurde endlich, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen, von Nikolaus Heiss und Renate Charlotte Hoffmann erstmals öffentlich präsentiert. 

Das sollte eigentlich schon im November letzten Jahres passieren. Doch die Stadt fühlte sich nicht ausreichend informiert und grätschte ihrem ehemaligen Leiter der Denkmalpflege und seiner Ko-Autorin dazwischen: Die geplante Präsentation fiel damals aus, auch wenn der Druck des Bandes mit kleiner Verzögerung noch vor Weihnachten erfolgte, sich das Werk seitdem bestens verkauft. „Eine völlig überflüssige Reaktion der Politik“, diesen Begrüßungsworten Hans Gerhard Knölls vom Verein der Freunde der Mathildenhöhe, die zusammen mit dem Bund Deutscher Architekten (BDA) zur Veranstaltung eingeladen hatte, schloss sich das zahlreich versammelte Publikum mit viel Applaus an. Knöll: „Der Stadtpolitik hat das Vorgehen geschadet, dem Buch sicherlich nicht.“ Hans-Henning Heinz erinnerte in einem Grußwort für den BDA an die Auszeichnung, mit der der Architektenverband 2020 Nikolaus Heiss für sein Lebenswerk geehrt habe. Ein Preis, den er für sein Engagement erhalten hat, „Baugeschichte und Baukultur zusammenzuführen und sie einem breiten Publikum nahezubringen“. Dialog ist sein Thema.

Der kulturelle Dialog ist auch das Thema, das die UNESCO von Anfang an verfolgt und mit der Verleihung von Welterbe-Titeln eines der bedeutendsten Instrumente dafür entwickelt hat. Die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur mit Sitz in Paris zählt aktuell 1.154 Welterbestätten in 167 Ländern. 51 sind es mittlerweile in Deutschland, nach dem zahlreichen Zuwachs von fünf neuen deutschen Welterbestätten in der letzten Entscheidungsrunde für die Jahre 2020 und 2021, darunter die Mathildenhöhe. Autorin Renate Charlotte Hoffmann war es wichtig vor dem Einstieg in das Darmstädter Welterbe, den Aspekt der Völkerverständigung, der dem Welterbe-Gedanken innewohnt, zu betonen:

„Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Friede im Geist der Menschen verankert werden.“ (Präambel der UNESCO)

Ein Welterbe gehört nicht einem Land, einer Stadt, einem Regenten: „Es ist das Erbe der Menschheit“. Somit gehört auch Darmstadts Mathildenhöhe – seit der Ernennung zum Weltkulturerbe am 24. Juli 2021 bestätigt – uns allen. Hoffmann verwies auf die Prüfkriterien, die die UNESCO zur Erlangung des Titels anlegt. Für die Ernennung zum Weltkulturerbe gibt es sechs verschiedene. Es reicht, wenn man nur eines davon erfüllt. Darmstadt hat sich mit zwei Kriterien beworben und erfolgreich belegt, dass es einen „Outstanding Universal Value“ (OUV) besitzt, einen „außergewöhnlichen universellen Wert “.


KRITERIUM (ii): Die Mathildenhöhe ist ein entscheidender Schnittpunkt in der Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert hin zur Moderne der Architektur. Ideen der reformorientierten Lebensgestaltung auf hohem künstlerischen Niveau mit experimenteller Architektur und innovativem Design erhielten hier Gestalt. Die Ausstellungen und die voll eingerichteten Wohn-Meisterhäuser waren erstmals inszenierte, moderne Lebenswelten auf Dauer und stellten beispiellose Neuerungen dar, die vielfach beachtet wurden und maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Architektur und Gestaltung ausüben konnten.

KRITERIUM (iv): Im Verlauf von 16 Jahren entstand auf der Mathildenhöhe ein hervorragender Typus eines architektonischen Ensembles bestehend aus Gebäuden, gestalteten Gärten mit Skulpturen, Innenarchitektur und Design: „Ein beispielloses Gesamtkunstwerk“.


Erfolgreich war Darmstadts Bewerbung aber auch, weil sie eine Lücke in der bisherigen Liste der Welterbestätten schließt. Wunderbaren Jugendstil gibt es an vielen Orten zu bewundern, nicht nur in Darmstadt. Aber die Mathildenhöhe ist weltweit einzigartig, weil man nur hier die „Architektur im Aufbruch zur Moderne“ erleben kann. Das Bauhaus war nicht einfach plötzlich aus dem Nichts da. Zwischen Jugendstil und Moderne gab es viele Etappen. In Darmstadt kann man sie zeigen, kann man wie in einer Zeitreise dem frühen Aufblitzen der Moderne nachspüren: von der ersten Ausstellung der Künstlerkolonie in 1901 bis zur letzten, vierten, in 1914. Auf der deutschen UNESCO-Seite ist dazu viel zu finden und zu lesen – auch die bekannte Luftaufnahme der Mathildenhöhe von Nikolaus Heiss, die ebenfalls das Cover des neuen Bildbands ziert.

Welterbe Mathildenhöhe Darmstadt – World Heritage Mathildenhöhe Darmstadt
Bildband mit Fotografien von Nikolaus Heiss und Texten von Renate Charlotte Hoffmann
216 Seiten, Hardcover, zweisprachig deutsch/englisch
Format: 24 x 29,7 cm
Preis: 29,80 Euro
ISBN: 978-3-87390-466-8
Justus von Liebig Verlag, 2021

Neue Entdeckungsreisen zur Mathildenhöhe: Wo blitzt die Moderne bereits auf?

Den Hauptvortrag des Abends hielt Heiss, und er widmete sich vor allem der Frage, wo er denn genau zu sehen sei auf der Mathildenhöhe, der Aufbruch in die Moderne. Beim Blick auf das Ernst-Ludwig-Haus ging es daher beispielsweise auch nicht so sehr um das prächtige Portal mit seinem vielen Gold, sondern um die breitgestreckte weiße Fassade fast ohne jeglichen Dekor.

Oder die Fensteranordnungen an vielen der Künstlervillen, die alles andere als symmetrisch sind, sondern dem jeweiligen Raumbedürfnis innen angepasst. Das ist ausgesprochen modern zu einer Zeit, als man noch Gründerzeitfassaden mit rhythmischer Gliederung von Fensterfronten mit viel Zierrat drumherum baut. Große weiße Flächen in der Fassade sowie die Gestaltung eines Gebäudes von innen nach außen, in der die Form – eines Fensters etwa – der Funktion folgt. Unter dem Label „Form follows function“ wird das erst viele Jahre später zum Credo moderner Architektur. Auf der Mathildenhöhe sind sie ein Markenzeichen Joseph M. Olbrichs, der dieses Gestaltungsprinzip schon ganz früh im 20. Jahrhundert, in den Bauten der Ausstellung von 1901, entwickelte.

Oder Flachdächer. Für uns heute nicht ungewohnt, aber damals ein gewagtes Experiment. Zu sehen auf dem Haus Habich. Das hatte sogar schon ein begrüntes Dach, das eine sehr mediterran anmutende Dachterrasse rahmte. Heiss zeigte viele Bilder, von damals, und wunderbare von heute, allesamt aus der Hand des auch mehrfach ausgezeichneten Fotografen. Sein Archiv aus vielen Jahrzehnten ist groß, da musste er nicht auf die Bilder des Buches vorgreifen, sondern konnte zum Vortrag dem Publikum viele neue präsentieren – wie etwa diese hier, die viele der innovativen Ideen von einst beispielhaft demonstrieren:

Der Hochzeitsturm, so Heiss, habe viel zur Welterbe-Ernennung der Darmstädter Mathildenhöhe beigetragen. Über Eck gestaltete Fensterstreifen tauchen an diesem späteren Wahrzeichen Darmstadts 1908 zum ersten Mal überhaupt in der Kunstgeschichte auf. Sie sind eine ureigene Erfindung Olbrichs, der nun über ein Jahrhundert später die Anerkennung bekommt, die ihm dafür gebührt. Dessen Qualitäten wurden bereits 1949 in einem Werk des Architekturhistorikers Nikolaus Pevsner erkannt. Wer steht auf dem Cover des internationalen Fachbuchs selbstverständlich neben berühmten Türmen der weltbekannten Architekten Eiffel, Morris und Gropius als ein Beispiel für herausragende Bauwerke der „Pioneers of Modern Design“? Der Darmstädter Hochzeitsturm von Olbrich.

Auf dem Weg in die Moderne wird die Oberfläche zunehmend durch Material und Farbe gestaltet, ohne Ornamentik wie noch im klassischen Jugendstil. Backstein und farbig glasierte Klinker setzen stattdessen markante Zeichen, angefangen bei der Künstlervilla von Peter Behrens in 1901, über Olbrichs Dreihäusergruppe und die Bildhauerwerkstätten am Ernst Ludwig-Haus von 1904 bis zu seinem Meisterstück, dem Hochzeitsturm von 1908 mit seiner hoch aufragenden Fassade aus rauem Backstein. Auch mit dem neuartigen Baustoff Beton wird schon ganz früh experimentiert. So rahmte Olbrich seine letzten Gebäude für die Mathildenhöhe, die er vor seinem frühen Tod mit 40 Jahren noch fertigstellen konnte, rundherum mit einer Konstruktion aus ornamentfreien Pergolen aus Beton. Vielfalt und Farbe bringen rankende Rosen und Blauregen ins Bild, die in Kaskaden von mehrstöckigen Pergolen hinunterfallen. „Die hängenden Gärten von Darmstadt“, wie Heiss sie gerne nennt.

Doch neben aller architektonischen Moderne ist es vor allen Dingen die Schönheit der Anlage, diesem einmaligen Ensemble aus Architektur, Gärten und Kunst, die einen immer wieder aufs Neue bezaubert. Die Spiritualität des Platanenhains, das Einladende der wunderbaren Eingänge, der Geist der Freiheit, der alles durchweht. In seiner Rezension zum Buch würdigt daher auch Frank Oppermann, langjähriger Leiter der Unteren Denkmalschutzbehörde des Kreises Darmstadt-Dieburg sowie Architektur-Professor an der Hochschule Darmstadt, ein Werk, das es schaffe, die Schönheit der Mathildenhöhe zum Leuchten zu bringen. Wie passend dazu auch das Zitat, mit dem Heiss selbst seinen Vortrag beendete:

„Die Mathildenhöhe ist nicht Werktag, sie gehört zu Darmstadts ewigem Sonntag…“ (Adressbuch 1934)

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Nachschlag

Auf dem langen Weg zum Weltkulturerbe war Heiss von Anfang an mit dabei. Von 2006, als man mit einem „Forum Mathildenhöhe“ und 65 Leuten die Diskussion startete, bis 2019, als der Antrag endgültig bei der UNESCO eingereicht wurde mit dem bekannt glücklichen Ausgang im Sommer 2021. Auch Renate Charlotte Hoffmann war als Kunsthistorikerin viele Jahre in der vierköpfigen Arbeitsgruppe rund um Heiss, der 2008 als oberster Denkmalpfleger Darmstadts mit der Prüfung eines Welterbeantrags beauftragt wurde. Ein langer Weg zum Weltkulturerbe, 14 Jahre, den Heiss national wie international in den unterschiedlichsten Gremien begleitet hat.

Der Streit mit der Stadt Darmstadt rund um das Erscheinen des Buches im Herbst 2021 ist mittlerweile beigelegt. Doch er hat Spuren bei beiden hinterlassen. Immerhin musste Heiss ein arbeitsrechtliches Verfahren anstrengen, um in einer Kündigungsschutzklage gegen die Stadt zu erwirken, dass „die fristlose Kündigung gegenstandslos ist, und die im Zusammenhang mit der Kündigung erhobenen Vorwürfe nicht weiter aufrecht erhalten werden.“ Textlich hielt das Werk ohnehin akribischster Überprüfung stand. „Nach all dem Ärger, den wir hatten, tut die Reaktion aus Leserschaft und Publikum uns sehr gut. Danke.“

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