Maßgeschneidert: Das passende Kleid zum Haus

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„Es war mir nie recht verständlich, warum Menschen sich mit der Gestaltung der Kleidung, ihrer zweiten Haut, so wenig abgeben, daß sie sie anderen überlassen und sich dadurch in Abhängigkeiten bringen.“ (OT HOFFMANN, 2003)

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Henry van de Velde entwarf nicht nur die entsprechende Damenbekleidung, sondern vertrat auch publizistisch seine Thesen. „Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung“ hieß ein 24 Seiten langer Aufsatz von ihm in der Zeitschrift „Deutsche Kunst und Dekoration“ von 1902 aus dem auch die Bilder hier stammen Seine Reformkleider waren so exquisit wie die Innen-Einrichtung des Jugendstils, kostbare Samtroben mit gestickten Jugendstilornamenten. Man(n) folgte der Idee, „daß ein Frauenkleid auch sinngemäß, einheitlich wie ein Möbel, ein Teppich sein könne, sein müsse, daß es eine Idee, eine dekorative Idee zu verwirklichen habe.“ Man wollte dabei modern und fortschrittlich sein, aber auf keinen Fall modisch. Mit dem neuen, auf Architektur basierenden und sie kopierenden Stil sollte der allgemeinen „Tyrannei der Mode“ laut van de Velde nachgerade entgegengewirkt werden.

In Wien sehen wir ähnliche Entwicklungen, wird auch dort das Künstlerkleid zur geschneiderten Architektur. Nur das in der österreichischen Metropole nicht mehr das aufgestickte Ornament im Mittelpunkt steht wie noch zur Blüte des Jugendstils ein paar Jahre zuvor, sondern abstrakte schwarz-weiße Muster. Vor allen Dingen Emilie Flöge, die Muse des Jugendstilkünstlers Gustav Klimt und Mode-Avantgardistin ihrer Zeit, entwickelte die bis dato wenig modischen „Sackkleider“ der Reformbewegung zu wallenden, bodenlangen „Statement-Pieces“, wie etwa das gestreift-karierte Modell von 1909. Auch Josef Hoffmann, wie Joseph M. Olbrich einer der Gründer der Wiener Secession, entwarf 1910 ein „Damenkleid für eine Redoute“. Mit seiner schwarzen Applikationsstickerei auf naturweißer Baumwolle könnte es direkt einem seiner Bauten entsprungen sein. Ein weiteres Künstlerkleid, in diesem Fall entworfen von Koloman Moser, trägt Emilie Flöge 1910. Mit einem applizierten Motiv aus Dreiecken im kontrastreichen Schwarzweiß ist es typisch für die Formensprache der Zeit und den Stil der Wiener Werkstätten.

Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern bis sich ein Künstler der Männerbekleidung annahm und sie einer grundlegenden Reform unterzog. Und es war wieder ein Architekt, der sich mit dem Schneiderhandwerk vertraut machte: Der Darmstädter Architekt Ot Hoffmann begann in den Achtziger Jahren damit, den Anzug kritisch zu prüfen und alles Überflüssige an ihm wegzulassen. Er strich Revers, Schlitze, Kragen und Zierknöpfe – und entdeckte zunächst den „Reißverschlussanzug“ und das knopffreie, sich überlappende Hemd. Und wie schon Henry van de Velde setzte sich Hoffman auch theoretisch mit zeitgemäßer Kleidung auseinander, veröffentlichte 1983 sein Buch „Kleidung statt Mode“. Mode war für ihn pure „Freiheitsbeschränkung“, das individuell geschneiderte „Eigenkleid“ das ideale Maß der Dinge und zugleich Befreiung von Konsum und Märkten.

Als Architekt geprägt von Bauhaus und Werkbund standen bei ihm nicht abstraktes Ornament und schwarzweißer Kontrast im Mittelpunkt des Interesses – wie noch bei dem historischen Reformkleid – sondern allein die Funktionalität der Kleidung. So entwickelte er im Laufe seiner vielen Experimente, die immer auch Selbstexperimente waren, eine Reihe multifunktionaler Gewänder mit vielen heraus- und abnehmbaren Elementen. Kleidung wurde für ihn immer mehr zum Behälter, in dem sich so Einiges unterbringen und transportieren ließ und Handgepäck auf Reisen fast schon überflüssig machte. Viele Innentaschen füllten seine Weste mit Gürtel oder seinen überwurfartigen weiten Mantel. Schönheit in Mustern, Designs und Material spielten eine untergeordnete Rolle. Praktisch und funktional hatte alles zu sein.

Das Architektencredo der Moderne, „Form follows function“, findet sich hier umgesetzt ins Stoffliche. Auch bei Hoffmann sehen wir wieder geschneiderte Architekturtheorie. Folgerichtig findet sich Multifunktionalität auch in seiner Architektur, insbesondere seiner Innenarchitektur: Für sein „Baumhaus“ in Darmstadt , einem Pionierbau ökologischen Bauens, entwickelte er etwa verschiedene Wohnmodule, die sich je nach Bedarf zu Kinderzimmer oder Küchen entfalten und frei im Wohnraum aufstellen lassen. Betten oder Arbeitsplätze können von der Decke herabgelassen werden oder einfach wieder verschwinden. Mehr Variabilität und Multifunktionalität in einem Raum wie bei Hoffmann geht kaum. So variabel und individuell wie seine Reformkleidung für den Mann.

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Das siebengeschossige Privat- und Geschäftshaus in Darmstadt von Ot Hoffmann, voller Ideen und Innovationen und seiner Zeit weit voraus, kann besichtigt werden. Diese Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen:

DAS BAUMHAUSFEST

SAMSTAG, DEN 23. MÄRZ 2024

Einen seltenen Blick ins Innere des von Ot Hoffman gebauten wie auch in den Obergeschossen viele Jahre selbst bewohnten „Baumhauses“ in der Schleiermacher Straße 8 in Darmstadt erlaubt diese Veranstaltung, die das Gebäude erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Söhne des 2017 verstorbenen Architekten, Pan und Till Hoffman, haben gemeinsam mit anderen Bewohnern des Hauses, darunter die Galerie Netuschil, ein abwechslungsreiches ganztägiges Programm mit Führungen, Vorträgen und Gesprächen zusammengestellt, das vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) sowie der Werkbundakademie unterstützt wird. Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Die Führungen durch das Wohn- und Geschäftshaus starten um 12:30 Uhr, 14:30 Uhr und 16:30 Uhr.

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Lesetipps

https://www.faz.net/aktuell/stil/mode-design/ausstellung-zum-kuenstlerkleid-um-1900-in-krefeld-15994080.html

https://www.vogue.de/mode/artikel/emilie-floege

Quellen

Henry van de Velde: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung. In: Deutsche Kunst und Dekoration, Band 10, 1902 (digital abrufbar über die Universität Heidelberg).

Ot Hoffmann: Kleidungsreform heute? In: Centenarium, Einhundert Jahre Künstlerkolonie, Mathildenhöhe Darmstadt, Häusser Medien Verlag, 2003, S. 184 -192.

Christina Threuter: Stoffwechsel: Moderne Architektur als Bild. In: From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin, 2006 (https://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/052/Threuter/threuter.htm).

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