„Wir danken Euch allen!“ 23 Köpfe und ihr Weg in die Moderne. Ein Portrait.

Die Mathildenhöhe Darmstadt ist seit dem 24. Juli 2021 UNESCO Weltkulturerbe. Die Stadtkrone hat es sich verdient, allein schon wegen ihrer besonderen Schönheit und Erhabenheit. Doch damit hat sie sich nicht beworben, auch nicht wegen ihrer Verdienste um den Jugendstil, obwohl sie diese zweifelsohne hat. Mit dem Ehrentitel ausgezeichnet wurde der Musenhügel wegen der innovativen Leistungen seiner Künstler, in deren Werken die Welt dem Zeitgeist um 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in unglaublich vielen Facetten künstlerischen Schaffens nachspüren kann. Von Architektur und Gartenbau, von Möbeln bis zur Innendekoration, von Keramik, Schmuck bis zu Geschirr und Besteck, von Theaterkulissen bis zum Buchdruck. Wer waren diese kreativen Köpfe? Was für ein Gebilde war sie eigentlich genau, die „Künstlerkolonie Darrmstadt auf der Mathildenhöhe“, die den argumentativen Kern der UNESCO Bewerbung ausgemacht hat?

Es gibt kaum einen Lebensbereich, der es den reformbewegten Geistern nicht Wert schien, neu und anders als bisher gestaltet zu werden. In vielen Disziplinen ist in der neuen Welterbestätte der UNESCO der Keim der Moderne zu finden, an vielen Künstlerpersönlichkeiten lässt sich hier der Weg ins neue Jahrhundert beispielhaft nachverfolgen: Bei den großen und bekannten Namen wie Joseph M. Olbrich oder Peter Behrens, die in der Architektur prägend und stilbildend waren, aber auch bei den vielen anderen Künstlern, die in der Malerei, der Bildhauerei, der Innendekoration und -ausstattung, der Gebrauchs- und der Buchkunst gewirkt und deutliche Spuren hinterlassen haben. Ihre Werke und Lebensläufe sind für die Architektur- wie die Kunstgeschichte eine Brücke zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Das macht die Künstlerkolonie und die Mathildenhöhe Darmstadt so einmalig in der Welt.

Einen fast schon universellen Anspruch an die Macht der Kunst und der Schönheit hatte die Gründergeneration der Künstlerkolonie. Bis heute geht eine große Faszination von ihr aus:

Die Exzentrik des Anfangs, ihre Naivität und Zukunftsgewissheit, ihre Großmannssucht, ihre Eloquenz, ihr Spielertum. Es war der unstete, flatterhafte, genialische Olbrich, und es war das Siebengestirn der ersten Jahre […].
Wolfgang Pehnt, 1999

Die Ausstellung von 1901 war der Höhepunkt ihres Schaffens und ihr Ende zugleich. Nur ein Jahr später hatten Hans Christiansen (1), Patriz Huber (2) und Paul Bürck (3) die Kolonie verlassen, Peter Behrens (4) und Rudolf Bosselt (5) folgten auch bald, und 1903 war von den sagenhaften Sieben so gut wie keiner mehr da. Bis auf Ludwig Habich (6), dem Darmstädter Urgestein, und, ja, dem „Primus inter Pares“, Joseph M. Olbrich (7). Aber der hatte sich ohnehin nicht gerade als kollegiales Mitglied einer Gemeinschaft hervorgetan.

Eine gemeinschaftlich arbeitende Künstlerkolonie hat es, wenn überhaupt, nur sehr kurz gegeben. Die wichtigste kreative Zeit der Gruppe war genau genommen die vor 1901, als man für eineinhalb Jahre zusammen im Porzellanschlösschen arbeitete. Olbrich entwarf anderswo in einem Extra-Atelier, immer in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit dem Großherzog Ernst Ludwig. Aristokraten unter sich quasi, denn Olbrich sah sich als einen Menschen von künstlerischem Adel und behandelte andere nur zu oft ein wenig von oben herab.

Als der „Tempel der Arbeit“, das Ernst Ludwig-Haus, für alle dann 1901 fertig war, konnte man zunächst nicht darin arbeiten, weil es von Mai bis Oktober als Ausstellungsgebäude diente, und später erwiesen sich die Räume für viele als nicht sonderlich praktisch, vor allen Dingen für die Bildhauer. Zudem ist die Zerstrittenheit der Truppe legendär. Es existieren nicht viele, aber sehr sprechende Briefe Olbrichs, die auf eine regelrechte Spaltung hindeuten. Am 27. Juli 1901 schreibt er an seinen Freund, den Dichter Hermann Bahr, nach Wien:

Ich glaub’ die ganze Kolonie muß vorerst untergehen und dann sich neu bilden; rein und ehrlich.

So geschah es schließlich auch. Mit der Ausstellung von 1904 unternahm die Künstlerkolonie zwar noch einen neuen, zweiten Anlauf, doch der war in Anspruch und Ausdehnung nur noch ein Schatten der Premiere. So schnell wie sie 1903 gekommen waren, waren die drei neuen Künstlerkolonisten Paul Haustein (8), Johann Vincenz Cissarz (9)  und Daniel Greiner (10) schon wieder weg und hinterließen die Dreihäusergruppe am Anfang des Prinz-Christians-Wegs. Als 1906 auch Habich noch nach Stuttgart ging, war nur noch Olbrich übrig geblieben. Und auch der hatte sich, obwohl noch in Darmstadt wohnend, ins Rheinland umorientiert. Dort bot sich ihm ein Betätigungsfeld, das er in der hessischen Residenz nicht bekam, trotz Teilnahme an Wettbewerben um öffentliche Neubauten der Stadt wie etwa den des Bahnhofes oder des Schwimmbades.

Nach dem Untergang: Neustart für die Künstlerkolonie

Die dritte Ausstellung von 1908 markierte den Schnitt. Ab hier beginnt eine neue, zweite Epoche der Künstlerkolonie. Nicht nur, dass das Gelände mit dem Hochzeitsturm und dem Ausstellungsgelände eine vollkommen neue Ausrichtung nach Westen Richtung Stadt erhielt. Hier tritt zum ersten Mal auch der Architekt Albin Müller (11) in Erscheinung, der das Aussehen der Mathildenhöhe nach Osten bald verändern und prägen sollte, zunächst mit einer Reihe von provisorischen Ausstellungsbauten für angewandte Kunst. Er stand zu Unrecht immer ein wenig im Schatten von Olbrich, den auch sein plötzlicher und früher Tod am 8. August 1908 zum tragischen Helden der Mathildenhöhe machte, und dessen Nachfolger Müller als architektonischer Leiter werden sollte. Als neuen Bildhauer hatte man Heinrich Jobst (12) nach Darmstadt berufen, für Silber- und Goldschmiedearbeiten stieß Ernst Riegel (13) neu hinzu.

1908 ist aber nicht nur wegen des Wechsels in der architektonischen Leitung eine bedeutende Wegmarke. Dieses Mal präsentiert sich auf der Mathildenhöhe nicht die Künstlerkolonie selbst dem Publikum, sondern das hessische Gewerbe in einer Art Leistungsschau: die Hessische Ausstellung für freie und angewandte Kunst.  Darunter waren selbstverständlich auch die verschiedenen großherzoglichen Werkstätten, die zwischenzeitlich von Ernst Ludwig gegründet worden waren und unter der Leitung der Künstlerkolonisten Jakob Scharvogel (14) für Fliesen und Keramik, Josef Schneckendorf (15) für Glaskunst und Friedrich W. Kleukens (16) für Malerei, Illustration und Buchdruck standen. Diese Gruppe der Künstlerkolonie, die zweiten Sieben, die bis auf Olbrich alle 1906 oder 1907 nach Darmstadt berufen wurden, blieb im Vergleich relativ lange zusammen, sieben Jahre viele, Müller sogar acht. Sie war die konstanteste und langlebigste Einheit aller Künstlerkolonie-Gruppen auf der Mathildenhöhe.

Merkwürdigerweise blieb aber auch in dieser Konstellation das Gemeinschaftsgefühl als „Künstlerkolonie“ auf der Strecke. Vielleicht lag es auch daran, dass viele von ihnen hauptberuflich nun mehr oder weniger gute Firmenchefs waren. Sehr zum Bedauern ihres neuen Chefarchitekten:

Meine Hoffnungen und Bemühungen um einen freundschaftlichen Zusammenschluss der Künstler der Kolonie schlugen von Anfang an und in der ganzen Folgezeit fehl.
Albin Müller

Vielleicht lag das auch an der zunehmenden Anzahl an Kolonisten. Denn für die vierte, letzte Ausstellung waren es insgesamt zehn Künstler, die in verschiedenen Disziplinen mitwirkten. Wie bemerkte Großherzog Ernst Ludwig in seinen „Erinnerungen“ schon ganz weise:

Es waren immer nur ungefähr sieben Künstler, denn diese Zahl stellte sich als praktisch heraus. Weniger Künstler produzierten nicht genug Ehrgeiz und Friktion. Mehr verursachten, dass sie nicht zusammenhielten, obwohl jeder in seiner Art allein bleiben sollte. Sobald größere Aufträge kamen, sollten sie sich immer – wenn möglich – gegenseitig helfen, was auch geschah.

Der bekannteste Künstler der letzten Kolonistengeneration ist wohl der Bildhauer Bernhard Hoetger (17), der den Platanenhain zur Monumentalskulptur im Freien gestaltete und die Löwenfiguren, die sich heute auf den Säulen am Eingang zur Rosenhöhe befinden. Der Architekt Edmund Körner (18) hat viele provisorische Bauten beigetragen, die heute nicht mehr zu sehen sind, sich aber im „Dippelshof“ in Traisa für immer verewigt. Emanuel Margold (19) ist durch die Möbel des ebenfalls provisorischen Restaurants bekannt geworden. 1911 kam Hanns Pellar (20) als Maler und Illustrator noch hinzu.

Zur letzten, vierten Ausstellung, in 1914 waren die drei Firmenchefs von 1908 nicht mehr dabei. Zwei mussten sich aus Gründen der Unwirtschaftlichkeit ihrer Betriebe verabschieden. Die Leitung des großherzoglichen Buchdrucks war nach Zwist unter den Brüdern im letzten Jahr an den jüngeren, Christian H. Kleukens (21), übergegangen, der als technischer Leiter bereits seit 1908 auf der Mathildenhöhe arbeitete. Der Maler Fritz Osswald (22) und der Silber- und Goldschmied Theodor Wende (23) wirkten nur kurz, seit 1913, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 vorzeitig zum Schluss der Ausstellung führte und das inoffizielle Ende der Künstlerkolonie einleitete.

UNESCO Weltkulturerbe voller Widersprüche

Damit ist sie also komplett, die Riege der 23 Künstler, denen Darmstadt die Auszeichnung zum Weltkulturerbe der UNESCO zu verdanken hat. Mit Kolonie verbindet man Gemeinschaft, und das ist sie genau genommen eigentlich nie gewesen, die Darmstädter Künstlerkolonie. Am Anfang war es möglich, doch scheiterte an der besonderen Konstellation mit Olbrich als dem alles prägenden Charakter. Bei der zweiten Ausstellung waren sie zu wenig, bei der dritten zu geschäftlich gebunden und bei der vierten waren sie zu viele Köpfe. Im Grunde ist sie ein Phantom!

Aber das passt irgendwie auch gut ins Bild und zu der Begeisterung über die so vielfältige und immer wieder überraschende Mathildenhöhe Darmstadt, die bis heute – und als UNESCO Weltkulturerbe ganz besonders – anhält:

Die Neuentdeckung der Mathildenhöhe seit den fünfziger Jahren war eine Wiederentdeckung ihrer brillanten Widersprüche, ihrer Kapriolen und Manierismen.
Wolfgang Pehnt, 1999

***


Bildnachweise Künstlerportraits: Personen-Übersicht des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt.

Quellennachweis: Wolfgang Pehnt: „Das hatte uns noch Niemand geboten“ In: Stadt Darmstadt, Kulturverwaltung und Hochbau- und Maschinenamt: Mathildenhöhe Darmstadt. 100 Jahre Planen und Bauen für die Stadtkrone 1899-1999, Band 1: Die Mathildenhöhe – ein Jahrhundertwerk, Darmstadt, 1999, 2. Auflage, 2004, S. 23 – 27.

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