
Ein Pferd mit Flügeln, da denkt unsereins – jedenfalls, wenn er oder sie vom europäisch-antiken Kulturraum geprägt ist – doch gleich an Pegasus. Falsch gedacht! Auf das falsche Pferd gesetzt. Denn bei diesem Mischwesen aus Pferd und Mensch, das in vielen Varianten das Werk von Nadira Husain beflügelt, geht es um „Al-Buraq“, die arabische Version. Der Legende nach soll der Prophet Mohammed auf ihm von der Erde zum Himmel geflogen sein. So kennt diese Geschichte jeder in der muslimischen Welt, die weit, bis in den Fernen Osten, bis nach Indien reicht. Dort hat eine Künstlerin ihre Wurzeln, der das Institut Mathildenhöhe Darmstadt vom 26. Juni bis zum 2. Oktober 2022 eine Einzelausstellung in den Bildhauerwerkstätten des Ernst Ludwig-Hauses widmet.
Und so öffnet uns dieses Pferd die Augen für einen zumeist sehr unbekannten Kulturkreis, der zur Erfahrungs- und Erinnerungswelt einer Frau mit multikulturellem Hintergrund gehört, die 1980 in Paris geboren wurde. Dort arbeitet sie auch, aber simultan ebenfalls im südindischen Hyderabad oder in Berlin. Eine, die zwischen den Kulturen wandert, sich mit so aktuellen Themen von Herkunft, Heimat und Zuhause in einer globalisierten Welt auseinandersetzt, und auch mit Fragen rund um Rassismus und Feminismus.
„Mit ihr zeigen wir die erste Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst nach Ernennung der Mathildenhöhe Darmstadt zum Weltkulturerbe“, erläutert Philipp Gutbrod, Direktor des Instituts Mathildenhöhe. „Die Internationalität unserer Stätte ist ein wichtiger Grund für unsere UNESCO-Welterbeanerkennung, die nun mit Manzil Monde eine spannende Verbindung eingeht.“ Schon im Titel der Ausstellung mischen sich die Welten: „Manzil“ hat indisch-arabische Ursprünge (Urdu), bedeutet in etwa „Haus“ oder „Zuhause“, während das französische „Monde“ die „Welt“ transportiert.
Indien und die Mathildenhöhe: Weisheiten aus Fernost für Darmstadt
Es gibt viele Bezüge und Beziehungen zwischen der Darmstädter Mathildenhöhe und dem indischen Sub-Kontinent. Sei es die Indienreise, die Hessen-Darmstadts Regent Ernst Ludwig 1902/03 als Enkel der Queen Victoria und Kaiserin von Indien machte. Sei es der Besuch des ersten asiatischen Literaturnobelpreisträgers von 1913, dem indischen Philosophen Rabindranath Tagore, der im Juni 1921 beim Großherzog im Neuen Palais wohnte und damals für viel Aufsehen sorgte. „Tagore“, so Gutbrod, „ist die geheime Quelle der Ausstellung“. Denn mit einem Buch, das 1920 ins Deutsche übersetzt „Das Haus und die Welt“ heißt, wurde er international berühmt. Damit wären auch gleich wieder die zwei Begriffe im Spiel, die durch die aktuelle Ausstellung leiten.


Im Foyer des Ernst Ludwig-Hauses wie im Treppenhaus hinunter in die Arbeitsebene der Bildhauerwerkstätten begrüßen die Besucher:innen Keramik und Zeichnungen, führen ein in die bunte und mitunter schrille Formen- und Bildsprache der Künstlerin: Bei Husain leuchtet es in Rosa, Pink und Türkis. Gelb, Rot und Orange blitzen im Blick eines starren Auges und einer stilisierten Brezel auf. Zwei Motive, die auch in ihren textilen Werken häufig zu finden sind.
Die Welt und das Haus: Bühne frei in den Bildhauerateliers
In den beiden Haupträumen der ehemaligen Bildhauerateliers der Künstlerkolonie tritt man ein in bühnenartige Settings, die Nadira Husain speziell für die Darmstädter Ausstellung installiert hat. Das erste Raumbild beschäftigt sich mit dem Menschen als Teil von etwas Größerem, der Gesellschaft, seinem Dasein und Leben in der „Welt“.

Hier zieht ein großformatiges Triptychon an der Rückfront die Blicke sofort auf sich: Migration Pride reiht in knallenden Farben Szenen einer Großstadt aneinander, lässt eine antirassistische Demonstration vorbeiziehen, den Betrachter eintauchen in den Ort des Geschehens. Nicht ganz so laut, fast schon kontemplativ, ist der übrige Raum gestaltet: In der Mitte laden Kissenrolle und Teppich zum Dialog und Nachdenken ein. Drei überlebensgroße Textilarbeiten stehen sich an den Wänden gegenüber – als wären sie bereit zur Konversation. Le monde, wie Husain sie versteht, ist eine Welt des Miteinanders, des Zusammenwirkens aller Individuen.
Nadira Husain wurde nach ihrem Abschluss an der Ècole Nationale Supérieure des Beaux-Arts (ENSBA) in Paris regelmäßig zu Einzel- und Gruppenausstellungen eingeladen. Dazu zählen unter anderem Präsentationen im Heidelberger Kunstverein (2020), Museion Bozen (2019), KAI 10, Arthena Foundation in Düsseldorf (2019), Villa due Parc, Centre d’Art Contemporain in Annemasse (2018), Jewish Museum in New York (2015), Künstlerhaus Bremen (2014) sowie dem KW Institute for Contemporary Art in Berlin. Sie ist Teil des *foundationClass*collective, das an der aktuellen documenta 15 in Kassel teilnimmt. Seit 2021 ist sie Gastprofessorin an der Universität der Künste in Berlin.
Vom „Le Monde“, dem Raum der Welt, geht es hinunter in die unterste Ebene der Bildhauerateliers, in ganz Privates: ins „Manzil“, zu dem Ort, der einem Zuhause ist, war oder sein könnte. Hier kommen der Künstlerin die Erinnerungen, schwache Bilder, die wie Schemen vor dem Auge auftauchen, wieder verschwinden. Unbewusstes, Dinge aus der Kindheit. Husain arbeitet hier viel mit Textilien, die sie auf die Leinwand näht. Sie verwebt sie zu dichten Collagen, übermalt sie, der Hintergrund verwischt, ist kaum mehr auszumachen. Pferde und Elefanten aus der Mythologie des indisch-muslimischen Kulturraums tauchen im beziehungsreichen Programm aus Ornamentik und Symbolen immer wieder auf, bieten Husain Stoff und Motive für ganze Serien.
Die meisten Bilder und Objekte der Ausstellung sind aus jüngerer Zeit, die im unteren „Manzil“-Raum gerade erst 2021 und 2022 gefertigt. Die Kuratorin der Ausstellung und stellvertretende Direktorin des Instituts Mathildenhöhe, Sandra Bornemann-Quecke, hatte sogar Gelegenheit, dem Entstehungsprozess der Collagen für die Ausstellung in Darmstadt im Atelier der Künstlerin selbst ganz nahzukommen.


„Bei einem Atelierbesuch in Berlin-Kreuzberg konnte ich die neuen Collagen An Elephant in Front of the Window im Original anschauen. Aus nächster Nähe erkennt man, wie Husain die einzelnen Materialien auf der Leinwand miteinander vernäht. In ihren Werken existieren keine Hierarchien, alle Elemente stehen gleichwertig nebeneinander und ergeben ein Gesamtbild. Wichtig hierbei ist immer wieder die individuelle Wahrnehmung und Interpretation.“
Globales Plastik gegen die Kreativität der individuellen Gestaltung
Transparent, ohne durchsichtig zu sein, zeigen sich die verschiedenen Erinnerungsschichten. Ganz besonders schleierhaft werden sie auf zwei halbdurchlässigen Vorhängen, die den Raum gliedern. So undurchdringbar wie der Mensch, eine Kultur, zeigt sich die Kunst von Husain hier. Alles soll in seiner Vielschichtigkeit wahrgenommen werden. So macht es Sinn, dieser Vielfalt, dem nicht Greifbaren, etwas sehr Handfestes gegenüberzustellen, das seine Kraft nicht aus der Vielfalt, sondern seiner Konformität, seiner Uniformität bezieht: den weltweit benutzten, wohl unzerstörbaren Plastikstuhl „Monobloc“.
Fantastic Plastic heißt die Installation, die ebenso fantastisch den Bogen wieder zur Künstlerkolonie und ihrer Raumkunst schließt. Die Darmstädter Künstler haben 1901 eben nicht konform und uniform gedacht, sondern wie etwa bei den Stühlen für das Haus Behrens extra angepasste Modelle für das unterschiedlich weibliche und männliche Sitzfleisch gestaltet. Der Kontrast zum Plastiksessel des globalen Zeitalters heute könnte größer nicht sein.


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Die Ausstellung „Manzil Monde“ ist im Museum Künstlerkolonie im Olbrichweg 13 A dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr zu sehen, Museumseintritt 5 Euro / 3 Euro ermäßigt. Öffentliche Führungen zur ständigen Sammlung mit den Werken der Künstlerkolonie Darmstadt werden jeden Sonntag um 13 Uhr angeboten, um 15 Uhr folgt die Führung zur Einzelausstellung von Nadira Husain, Museumseintritt plus 3 Euro.
Unter www.mathildenhoehe.eu/nadirahusain/ finden sich Informationen zum aktuellen Rahmenprogramm. Die Broschüre zur Ausstellung besitzt ein Glossar am Ende, das den Besucher:innen hilft, viele Begriffe des arabisch-indischen Kulturraums sowie aktueller gesellschaftlicher Diskussion zu verstehen, und damit in die komplexen Bilderwelten der Künstlerin einzutauchen.
Darüberhinaus wurde von den Ausstellungsmachern viel Wert auf Mehrsprachigkeit im Angebot gelegt. Neben einem zweisprachigen, 136 Seiten starken Katalog auf Deutsch und Englisch, wurde ein Heft mit einem Quiz für Kinder ab 10 Jahren entwickelt, das die Kleinen spielerisch in den Themenkreis einführt und viel Platz bietet, um es in ebenso bunten Farben wie die Künstlerin auszumalen. Die Broschüre wie das Kinder-Quiz gibt es in drei Sprachfassungen, auf Deutsch, Englisch und Türkisch. Es ist den Ausstellungsmachern ein Anliegen, die Ausstellung möglichst vielen Menschen unterschiedlicher Sprache zugänglich und verständlich zu machen, insbesondere denen mit Migrationserfahrung oder -hintergrund. Es sind auch fremdspachige Sonderführungen vorgesehen: Neben den klassischen Fremdsprachen kann das Institut Mathildenhöhe diese auf Anfrage auch auf Türkisch oder etwa Ukrainisch anbieten.
Bildnachweis: Institut Mathildenhöhe (sämtliche Fotos: Marjorie Brunet Plaza)