„Meine Mathildenhöhe“: Flanieren mit dem neuen alten Osthang-Verein

Auch wenn seit kurzem „e.V.“ am Ende des Namens steht, stecken hinter dem Kunst- und Kulturprojekt „Osthang“ weiterhin viele motivierte Freiwillige, die das lange Zeit brachliegende Gelände an der Rückseite der Mathildenhöhe seit gut acht Jahren mit Flohmärkten, Ausstellungen, Konzerten, Workshops und Festivals beleben. Mit einem ganzen Verein zu flanieren, das wäre ein schwieriges Unterfangen, aber mit drei Mitgliedern des Teams vom Osthang-Verein hat sich 23 Quer etwas ausführlicher unterhalten. Denn wer seit Jahren dem UNESCO Welterbe räumlich schon so nahe ist, der hat doch bestimmt eine besondere Beziehung zum Musenhügel entwickelt und nicht nur eine zum Osthang. In der Rubrik „Meine Mathildenhöhe“ erzählen Menschen, die die Mathildenhöhe prägen, begleiten und für sie an den unterschiedlichsten Stellen wirken, ihre ganz persönlichen Geschichten zu diesem ganz besonderen Stück Darmstadt. Gemeinsam mit ihnen flanieren wir über den Musenhügel. Drei Orte, drei Stopps, drei Geschichten. Los geht’s!

Stopp 1: Der Pavillon des Ausstellungsgebäudes

Sie waren damals jung, sehr jung, die kreativen Geister der ersten Darmstädter Künstlerkolonie von 1901, die für so viel Furore und Aufsehen sorgen sollte. Erst zwanzig Jahre alt der Jüngste, zweiunddreißig der Älteste, dachten sie alles von Grund auf neu – das Wohnen, das Arbeiten, ja das ganze Leben. Eine unglaubliche Freude am Experimentieren durchzieht ihre vor Einfallsreichtum sprühenden Entwürfe. Vieles davon war einzigartig, einmalig, nie zuvor gesehen. Sie waren Pioniere der Moderne, die damals nicht ahnen konnten, dass sie ein Werk von herausragendem Wert für die Menschheit schaffen sollten.

Im gleichen Alter wie die Protagonisten der Künstlerkolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind heute auch Marius Wolf, 28, und Max Politz, 24, die sich seit vielen Jahren im „OHA Osthang“-Projekt engagieren. Wir sitzen gemütlich unter den schattigen Bäumen des Osthang-Geländes, die fünf Finger des Hochzeitsturms grüßen von oben, der Blick fällt auf die Rückseite des sich auf dem Hügel imposant erhebenden Ausstellungsgebäudes.

Die Experimentierfreude der Künstlerkolonie, das ist etwas, was die beiden besonders an der Mathildenhöhe Darmstadt begeistert. Dem Leitspruch Ernst Ludwigs, des Großherzogs mit dem Mut zum Experiment, können sie viel abgewinnen:

„Habe Ehrfurcht vor dem Alten und Mut, das Neue frisch zu wagen.“

So flanieren wir von der Rückseite des Ausstellungsgebäudes zur Vorderseite, gehen durch den geöffneten Bauzaun und die Stufen hinauf zum Pavillon mit seiner Kuppel, die den Treppenabsatz krönt und den Bauherrn preist. Hier ist er zu lesen, der berühmte Leitspruch Ernst Ludwigs, eingelassen als umlaufendes goldenes Band in einem prächtigen Mosaik.

Marius war Student in Darmstadt und arbeitet mittlerweile als Ingenieur für naturnahe Wasserkonzepte und Abwasserbehandlung in Münzenberg-Gambach in der Wetterau. Ihn zieht es aber immer wieder zurück an den Osthang. Und gelegentlich wird er vom passiven wieder zum aktiven Mitglied des Vereins, wie im Juni, wo er in der Main Hall auf dem Osthang an zwei Tagen einen Vortrag über den „Kreislauf des Wassers“ gehalten hat. Ihm, der sich auch sehr für Permakultur interessiert und gerade ein Training dazu absolviert, geht es darum, von der Natur zu lernen, in zirkulären Systemen und nachhaltig zu denken.

Die Main Hall auf dem Osthang-Gelände.

Vor allen Dingen ist aber Wasser sein Thema. Und wo könnte man dazu einen besseren Bezug herstellen als am Ausstellungsgebäude der Mathildenhöhe? Schließlich erhebt sich der gesamte Gebäudekomplex über einem riesigen Backsteingewölbe, einem Wasserreservoir. Dieses ließ die Stadt Darmstadt 1877 – 1880 zur Trinkwasserversorgung der Bevölkerung anlegen. Zu diesem Zweck wurde es bis 1994 noch genutzt. Joseph Maria Olbrich, der prägende Architekt der Künstlerkolonie, hat den alten Wasserspeicher, der bis 1908 auch als Aussichtsplattform diente, raffiniert überbaut. Von außen kann man ihn heute nicht mehr sehen. Ihm aber ist die Erhabenheit und das imposante Erscheinungsbild des Gebäudes zu verdanken, das auf ihm thront, aber eigentlich nur eingeschossig ist.

Auch Olbrich hat das Thema Wasser sichtbar bewegt. Viele Brunnen hat er entworfen für die Mathildenhöhe, gemeinsam etwa mit den Bildhauern Ludwig Habich oder Daniel Greiner: der Brunnen mit dem trinkenden Jüngling an seiner eigenen Villa, dem Haus Olbrich, oder der Bacchus-Brunnen am östlichen Ende des Platanenhains.


Vom Osthang Project, zum OHA Osthang Kollektiv, zum Osthang-Verein – Im Jahr 2014 wurde vom Darmstädter Architektursommer e.V. in Kooperation mit dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt über die Dauer von sechs Wochen eine temporäre Künstlerkolonie oder »Summer School« für experimentelles Bauen und Denken errichtet. Das bis dahin ungenutzte Grundstück am Osthang der Mathildenhöhe wurde als Gemeinschaftsexperiment in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgeholt. Das »Osthang Project« war kultureller Projektraum und Impulsgeber für kulturelle und kreative Diskurse mit regionalen und internationalen Künstlern und Aktivisten, ein Festivalzentrum für Architektur, Kunst, Design, Diskurse, Konzerte und Performance. Daraus entstand in Anlehnung an die Künstlerkolonie der Mathildenhöhe ein freies Kulturzentrum. Aus dem Kollektiv von Studierenden der Fachbereiche Architektur und Gestaltung, aber auch anderer Fachbereiche, sowie einiger Nicht-Studierenden wurde 2022 der neue Osthang-Verein. (Quelle: http://www.osthang.de)


Stopp 2: Der Garten des Osthangs – ein Freiraum, in dem die Natur das Sagen hat

Olbrich war ein Architekt, der sehr naturnah gebaut hat. Das Landschaftsbild insgesamt war ihm wichtig. Ob der Blick auf die Hügel des vorderen Odenwalds, auf die nahe Rosenhöhe, vom Hochzeitsturm herab auf Stadt und Land – seine Bauten auf der Mathildenhöhe sind immer eingebunden in die Umgebung, treten in Wechselwirkung zu ihr. Das freie Feld, auf das er in Darmstadt seine Stadt bauen konnte, hat ihn inspiriert zu Dachterrassen mit weitem Blick auf die Landschaft. Auch seine eigene, damals noch leuchtend gelbe Villa direkt unterhalb des Ateliergebäudes der Künstlerkolonie war in alpenländischen Stil mit Walmdach und Balkonen eher Land- als Stadthaus.

In dieser Tradition steht ein Gedanke, der Max vom Osthang-Verein sehr wichtig ist: die Natur, die die Mathildenhöhe prägt und umgibt. Denn von der Natur könne die Architektur viel lernen, davon ist der TU-Student der Physik und Philosophie überzeugt. Auch privat liebt er das naturnahe Leben. So viel Zeit wie möglich verbringt er draußen, gerne in eine der Hängematten im OHA-Garten und bedauert, dass gebauter Architektur so viel Vorrang eingeräumt wird:

„Wer sagt denn, dass ein Besucherzentrum ausschließlich aus permanent umbautem Raum bestehen muss?“

Der Osthang wurde erstmals für die Ausstellungen der Künstlerkolone von 1908 und 1914 gestaltet. Er war für diese immer ein Ort des Grüns. 1908 zog sich den gesamten Hang entlang eine paradiesisch schöne Gartenterrasse. 1914 baute Olbrichs Nachfolger Albin Müller hier einen Ateliergarten, an den Obstwiesen grenzten. Heute erstreckt sich auf dem Gelände, dass die Stadt Darmstadt dem OHA-Verein vorübergehend zur Nutzung überlassen hat, ein Areal mit hohen Bäumen und kleinen Lichtungen. Es ist erstaunlich groß, reicht über mehrere Ebenen bis hinunter zum Fiedlerweg – viel Platz für kreativen Holzbau und innovative Ideen.

Die vermissen die beiden OHA-Mitglieder ein wenig bei dem bisher bekannten Entwurf für das neue Besucherzentrum: „Es fehlt uns aktuell bei den Planungen zur Zukunft des Welterbes der Mut zum Experiment, der Wille, wie damals die Dinge neu und anders zu denken. Es geht bei der Künstlerkolonie doch auch um deren Spirit zur Veränderung und Reform, der alles auf der Mathildenhöhe Darmstadt angetrieben hat. Diesen weiterzugeben, ist für uns auch ein Teil der Verantwortung, zu der die Auszeichnung der UNESCO auffordert.“   


„Die grüne Oase inmitten der Hochkultur“ – Wer mehr über den Osthang-Verein erfahren will, kann sich ausführlich auf der Webseite http://www.osthang.de informieren. Der Verein freut sich über jeden motivierten Menschen, der/die sich am Hang beteiligen möchte. Man muss dazu nicht Student/in sein oder zum Lehrkörper der Hochschulen gehören. Der Verein ist für jedermann und jedefrau offen. Es sind aktive wie auch passive Mitgliedschaften möglich. Spenden sind unabhängig von einer Vereinsmitgliedschaft natürlich immer willkommen. (Die Kontonummer des Osthang-Vereins lautet: OHA e.V., IBAN DE31 5089 0000 0072 3437 00, BIC: GENODEF1VBD, Volksbank Darmstadt. )


Stopp 3: Das Ausstellungsgebäude – von hinten gesehen

Hier an der Ecke stehen sie noch, die alten Bauschilder, die vom neuen Besucherzentrum künden. Um das ist es ein wenig still geworden, seitdem die UNESCO zur Bedingung für die Anerkennung als Weltkulturerbe gemacht hat, das Besucherzentrum aus der Kernzone des Welterbes herauszunehmen. Es wird gerade neu entwickelt und wird definitiv weiter östlich den Hang hinunter stehen als in den ursprünglichen Planungen. Kleiner wird es auch wohl werden. Aber Genaues weiß man nicht am Osthang. Alles wartet gespannt auf die Ankündigung der Stadt.

Patrick Magen, 26, ist momentan der Veranstaltungsbeauftragte des Vereins. Gelegentlich betreut er auch die Bar des Osthangs. Es ist Donnerstag, der hier der „Kleine Freitag“ heißt, ein regelmäßiges OpenAir auf der Mathildenhöhe. Eine Institution mittlerweile, nicht nur in Studentenkreisen. An diesem Abend, dem 30. Juni, eröffnet in der Main Hall eine neue Ausstellung. Architektur-Studenten der Hochschule Darmstadt präsentieren experimentelle Entwürfe für den Osthang in Verbindung mit oder als Besucherzentrum für die Mathildenhöhe. (23 Quer wird darüber in einer der nächsten Ausgaben berichten.) Patrick freut sich auch ungemein auf die Wiedereröffnung des Ausstellungsgebäudes. Seitdem er in Darmstadt an der h_da Sozialarbeit studiert hat er nie eine einzige Ausstellung darin sehen können.

„Ich schaue seit Jahren vom Osthang auf dieses Gebäude und war noch nie drin. Es war immer eine Baustelle.“

Damit fehle der Mathildenhöhe seit langem auch ein wenig ihr Mittelpunkt und Herz. Das kann der Osthang natürlich nicht ersetzen, aber als temporäres Besucherzentrum hat er sich jedenfalls schon bestens bewährt. Auch am Welterbe-Tag, den die Stadt am 5. Juni erstmals gemeinsam mit der UNESCO feierte: Das Welterbe-Büro und das Institut Mathildenhöhe Darmstadt zeigten in der Main Hall eine Ausstellung zur Idee und Geschichte des Welterbes, der Verein unterstützte die Stadt dabei mit vielen ehrenamtlichen Helfern. Mangels eines festen Besucherzentrums genossen die Menschen inmitten des üppigen Grüns die Biergarten-Atmosphäre und den Geist von Freiheit, den das Osthang-Gelände stets durchweht.

Diese Freiheit hatte einst der junge Großherzog Ernst Ludwig den Künstlern seiner Kolonie gegeben, insbesondere denen der ersten Ausstellung von 1901. „Innovation und Austausch ist nicht planbar, dafür braucht es einen Freiraum“. Davon ist man beim OHA-Verein überzeugt und steht damit ganz in der Tradition der Darmstädter Mathildenhöhe.

Dieser Zopf gehört zu Katja Wellscheid, der Dame mit Spiegelbrille an der Bar.

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Ein Kommentar zu „„Meine Mathildenhöhe“: Flanieren mit dem neuen alten Osthang-Verein

  1. Ich gratuliere euch zu diesem tollen Projekt mit den vielen kunterbunten Programmen ! Weiter so ! Viel Glück ! Die Menschen kommen in Verbindung und positives entsteht auch bei den Besucherinnen . Alles ist mit allem verbunden …( Dalai Lama) Om shanti

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