Heute beginnt das Sternzeichen des Löwen, und Morgen, am 24. Juli 2023, feiert die Mathildenhöhe Darmstadt ihren zweiten UNESCO-Geburtstag. Damit ist eines sternenklar: Unser Weltkulturerbe ist ein Löwe! Das Datum passt perfekt zur Stadt der Löwen: zu Darmstadt und zu seiner Mathildenhöhe, auf der es von Löwen auf dem gesamten Gelände geradezu wimmelt. Zwölf herrschaftliche Löwenwappen zieren alleine die Eingangsbereiche von Hochzeitsturm und Ausstellungsgebäude sowie den Bacchusbrunnen an der Stützmauer darunter, dazu kommt noch ein ganzer Löwenzoo im Platanenhain.
Der Tag der UNESCO-Entscheidung stand für Darmstadt 2021 also unter einem guten Stern, eine Himmelsfügung sozusagen. Kosmisch wird es auch an einer anderen Stelle der Mathildenhöhe: an der Sonnenuhr vom Hochzeitsturm. Sie wird umrahmt von den zwölf Tierkreiszeichen des Jahres. Ganz oben in dem wunderbaren Mosaik aus Glassteinen finden wir zwischen Krebs und Jungfrau dann selbstverständlich auch das Sternzeichen Löwe.


Die Sonnenuhr ist ein Kunstwerk von Friedrich W. Kleukens, Mitglied der Künstlerkolonie, Professor und Leiter der Ernst Ludwig Presse. Sie wurde erst einige Jahre nach der Eröffnung des Hochzeitsturms im Mai 1908 an seiner Südseite eingebaut. Sie war aber von Joseph M. Olbrich, dem Architekten des Hochzeitsturms, der alles Sonnige liebte, bereits fest eingeplant – ebenso wie die mechanische Turmuhr auf der Nordseite. Im Mai 1914, pünktlich zur vierten Ausstellung auf der Mathildenhöhe, wurde die Sonnenuhr aus Glasmosaik fertig. Sie ist quadratisch gestaltet. Das Ziffernblatt in der Mitte misst 3,25 x 3,25 Meter und zeigt eine gelbe Sonne auf weißem Grund, deren Strahlen auf arabische Ziffern am Rand zulaufen. Morgens wirft das Licht der Sonne aus dem Osten seinen Schatten auf die westliche Seite des Ziffernblatts, der die Ziffern von 6 bis 12 nach unten wandert. Danach wirft das Sonnenlicht von Westen seinen Schatten auf die östliche Seite des Ziffernblatts. Er wandert die Ziffern 1 bis 6 wieder hinauf, was 13 bis 18 Uhr entspricht.



Kleukens gilt als ein Meister der Tierillustration. Diese Kunstfertigkeit, die er bei der Buchgestaltung oft schon gezeigt hat, setzt er nun auch in diesem großformatigen Wandbild ein. Ob Krebs, Fische oder Wassermann, alle zwölf Tierkreise sind liebevoll gezeichnet und aus großer Entfernung noch sehr gut zu erkennen – auch der Löwe. Der hier ist frei gestaltet, nicht steigend wie bei den herrschaftlichen Löwenwappen auf der Mathildenhöhe, sondern sitzend im Profil nach rechts, mit langer Löwenmähne, seine Zunge aus dem Maul streckend. Die zwölf Sternzeichen befinden sich in genau gleichen Abständen gruppiert, wie am echten Nachthimmel auch, vor einem blauen Hintergrund mit funkelnden Sternen.
Sonne und Sterne, Licht und Schatten, Tag und Nacht: Kleukens bringt in diesem stimmig komponierten Mosaik unseren ganzen Kosmos in ein Quadrat aus kleinen Steinchen.
Die Ausführung lag bei der Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Treptow. Zur Auftragsvergabe sind einige interessante Details bekannt: Ursprünglich hatte Puhl & Wagner Kleukens ein Angebot in Höhe von 1.800 Mark gemacht. Doch das war zu teuer. Das Kabinett hatte nach der Genehmigung des Entwurfs durch den Großherzog im Januar 1914 für die Sonnenuhr nur 1.500 Mark bewilligt. Puhl & Wagner kam Kleukens entgegen, ging mit dem Preis auf 1.500 Mark hinunter, weil man der Firma dafür als Entgegenkommen den Anschlussauftrag für die Ausgestaltung der Portalmosaiken versprach. Dieser wurde dann auch später, Anfang April 1914, abgeschlossen. Er erfolgte aber nur unter der von Puhl & Wagner formulierten Bedingung, dass diese Mosaiken jederzeit öffentlich zu besichtigen seien, um durch die Werbewirkung den für sie zu niedrigen Verdienst von (wieder) 1.500 Mark zu kompensieren. So ist es eigentlich dem Verhandlungsgeschick dieses Betriebs zu verdanken, dass der Eingangsbereich des Hochzeitsturms früh öffentlich zugängig geplant wurde, und damit auch der „Kuss“, das ikonische Mosaik von Kleukens, für jedermann und jedefrau zu sehen war.
Unter der Sonnenuhr ist der Text eines Gedichts von Rudolf Bindung in goldenen Lettern auf Schwarz wiedergegeben. Die mittlere der drei Strophen ist ausgelassen, an ihrer Stelle befindet sich im Hochzeitsturm ein Fenster. Hier der komplette Text, der sich mit dem Dunklen der Nacht und dem Schatten des Todes beschäftigt, der noch über allem Leben und aller – auch durch eine Sonnenuhr gemessenen – Zeit steht:
DER TAG GEHT
ÜBER MEIN GESICHT
DIE NACHT SIE
TASTET LEIS VORBEI
UND TAG UND NACHT
EIN GLEICHGEWICHT
UND NACHT UND TAG
EIN EINERLEI.
ES SCHREIBT DIE
DUNKLE SCHRIFT DER TAG
UND DUNKLER NOCH
SCHREIBT DIE NACHT
UND KEINER LEBT
DER DEUTEN MAG,
WAS BEIDER SCHATTEN
IHM GEBRACHT.
UND EWIG KREIST
DIE SCHATTENSCHRIFT,
LEBLANG STEHST DU
IM DUNKLEN SPIEL,
BIS DICH DES SPIELES
DEUTUNG TRIFFT.
DIE ZEIT IST UM
DU BIST AM ZIEL.
***
Literatur: Stadt Darmstadt, Kulturverwaltung und Hochbau- und Maschinenamt: Mathildenhöhe Darmstadt. 100 Jahre Planen und Bauen für die Stadtkrone 1899-1999. Band 3: Ausstellungshallen und Hochzeitsturm – Haus der Künste, Wahrzeichen der Stadt, 2004, S. 105 – 110 (Redaktion: Christiane Geelhaar, Jochen Rahe).