Die Löwen der Mathildenhöhe: Gut gebrüllt, Stadtkrone!

Hier herrscht der Regent von Hessen-Darmstadt, hier ist großherzogliches Gelände. An vielen Stellen des einzigartigen Ensembles Mathildenhöhe wird dies sichtbar. Das beliebteste Motiv der Künstler dabei: ganz viele Wappen mit einem Löwen. Wie auch zu sehen an diesem Relief, das den Eingang des Hochzeitsturms außen krönt. Bildhauer Heinrich Jobst, Mitglied der Künstlerkolonie, liefert mit dieser Bildtafel aus Stein wichtige Informationen über das Geschenk, das die Stadt Darmstadt dem Paar errichtet hat: Zum Gedächtnis der Vermählung Ihrer Königlichen Hoheiten | des Großherzogs Ernst Ludwig und der Großherzogin Eleonore | errichtet von der Stadt Darmstadt anno 1907/1908. Zwischen der dreigeteilten Inschrift finden sich die herrschaftlichen Wappenschilder von Braut wie Bräutigam. Und da beide Hoheiten einen Löwen als Wappentier besitzen, tritt das Raubtier hier gleich doppelt auf.
Anno 1905 war die Vermählung, wie ebenfalls zu lesen, ganz oben zwischen den vier Allegorien. Mit Stärke und Weisheit, Gerechtigkeit und Milde soll der Herrscher walten über sein Großherzogtum. Wenn man genau hinguckt, dann sieht man in diesem Relief noch einen dritten Löwen, allerdings nicht in einem Wappen, sondern als eigenständige plastische Arbeit bei einer der vier Figuren. „Stärke“, wer könnte das besser symbolisieren als ein Löwe, der die erste allegorische Dame von links begleitet und dessen Schwanz man sehr gut zu ihren Füßen erkennen kann?
Am schmiedeeisernen Eingangstor vom Hochzeitsturm ist ein weiterer herrschaftlicher Löwe angebracht: Als Teil des Darmstädter Wappens ziert er wie die Lilie den Lorbeerkranz in der Mitte. Löwe Nummer vier.


Innen im Eingangsbereich kann man weiter Löwen zählen. Das Mosaik „Treue“ von Friedrich W. Kleukens, prächtig glänzend unter seinem goldenen Sternengewölbe, zeigt gleich zwei goldene Löwen, die wiederum zwei weitere Löwen im Wappenschild halten. Links ist der von Hessen zu sehen, rechts der von Solms – Blau auf goldenem Grund – als eine Referenz an die Heimat der Braut. Plus vier. Macht summa summarum: Acht herrschaftliche Löwen, allein für die Eingangssituation des Hochzeitsturms.
Kleine Wappenkunde: Zwei Wappen spielen in Darmstadt und damit auch auf der Mathildenhöhe eine besondere Rolle. Das eine ist das hessische, das ursprünglich aus Thüringen kommt, und das ein rot-weiß gestreifter Löwe auf blauem Grund ziert. Das andere ist das Wappen der Stadt, das zweigeteilt unten eine weiße/silberne Lilie auf blauem Grund zeigt und oben den roten Löwen von Katzenelnbogen, dem gräflichen Ahnengeschlecht von Darmstadt. Achtung: Dieser Löwe ist heraldisch korrekt Rot auf goldenem Grund – und nicht umgekehrt Gold auf Rot. Da hatte sich im Laufe der Jahrhunderte ein Fehler eingeschlichen bis Großherzog Ernst Ludwig 1917 verfügte, diesen zu korrigieren und auch den Zwischenbalken mit Kugel zu entfernen, zu dem sich der Trennstrich verbreitert hatte. Dafür erlaubte er der Stadt, sich fortan im Wappen mit seiner Krone zu zieren: das bis heute gültige „Große Wappen“ Darmstadts war geboren. Auf der Mathildenhöhe sind die „falschen Wappen“ noch zu sehen und werden aus Denkmalschutzgründen nicht verändert. Sie sind Zeugen ihrer Zeit.
Die heraldisch korrekten Wappen von Hessen, Darmstadt und Solms



Vor dem Hochzeitsturm geht es munter weiter mit der Löwenshow. Auch der Bacchus-Brunnen am östlichen Ende des Platanenhains zeigt ganz deutlich, wer hier auf seinem herrschaftlichen Besitz gepriesen werden soll: der Großherzog von Hessen und bei Rhein. Kongenial von Joseph M. Olbrich, Ludwig Habich und Daniel Greiner 1904 umgesetzt durch den Rheinkiesel, der das Halbrund ziert, und den Gott des Weins als Relief aus Bronze ganz oben. Besser kann man das Herrschaftsgebiet, das einst über die andere Seite des Rheins hinausreichte und Mainz miteinschloss, kaum in Bildsprache umsetzen.

Darmstadt findet sich auch im Kunstwerk. Die zwei Pfeiler links und rechts des Brunnens zeigen am oberen Ende das Stadtwappen Darmstadts. Und damit ist er dann auch wieder zu sehen: der Löwe. An beiden Seiten, also nochmals zwei dazu. Macht zehn.
Wenn man die Treppen wieder hinaufsteigt und das Ausstellungsgebäude Olbrichs erklimmt, dann begrüßt einen auf halbem Weg der Treppenpavillon mit seinem kunstvollen Mosaik in der Kuppel. Hier steht’s geschrieben: Habe Ehrfurcht vor dem Alten und Mut, das Neue frisch zu wagen; Bleib treu der eigenen Natur und treu den Menschen, die du liebst. Was natürlich nicht fehlen darf bei des Großherzogs programmatischen und berühmten Worten: ein Löwe! Es ist der gestreifte, der hessische. Nummer elf.



Ganz oben dann angekommen, direkt über dem Eingang zum Ausstellungsgebäude, hängt die größte und höchste herrschaftliche Löwendarstellung der Mathildenhöhe: das Wappen Darmstadts als Steinrelief in Form eines riesigen Medaillons. Der zwölfte Löwe.
Die Mathildenhöhe hat definitiv die meisten Löwen im gesamten Stadtgebiet vorzuweisen, nicht nur diese hier vorgestellten zwölf als Zeichen von Herrschaft und Macht. Der Platanenhain ist förmlich ein einziges Raubtiergehege. Auf der Sonnenuhr des Hochzeitsturms kann man im Mosaik oben noch einen Löwen als Tierkreiszeichen sehen. Insgesamt zählt man heute 60 Löwendarstellungen auf dem ganzen Gelände. Und eigentlich muss man genau genommen die sechs Löwen auf den Säulen vor dem Eingang der Rosenhöhe noch dazurechnen, da sie 1914 das Eingangstor zur vierten Ausstellung der Künstlerkolonie bildeten.
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Literatur: Hanne Wittmann: Die Löwen von Darmstadt, Darmstadt, 1990 | Fotos: 23 Quer, Mosaik: Martin Kraft.