Eine Gemeinschaft gleichgesinnter Kreativer, ein freundschaftlicher Zusammenschluss unter Künstlern – daran denkt man wohl zuerst bei einer Künstlerkolonie. So ging es auch Albin Müller als er dem Ruf von Großherzog Ernst Ludwig folgte, von der Magdeburger Kunstgewerbeschule an die Mathildenhöhe wechselte und dort zum 1. Oktober 1906 neues Mitglied der Künstlerkolonie Darmstadt wurde. Doch – „meine Hoffnungen und Bemühungen schlugen von Anfang an und in der ganzen Folgezeit fehl.“
Ich hatte in weltfremder, idealistischer Auffassung von einer harmonischen Künstlergemeinde, von reger gegenseitiger Anregung, von einem Eintreten füreinander geträumt, und sah mit Trauer, daß sich davon nichts in der realen Welt verwirklichen ließ.
Künstler sind mehr als andere Menschen Individualisten. Sie müssen es sein um des persönlichen Ausdrucks ihrer Kunst willen. So platzen in ihren Reihen die Meinungen und Anschauungen stärker aufeinander als in anderen Berufsgruppen.
Von der ersten Generation der Darmstädter Künstlerkolonie existieren Briefe aus der Feder Joseph Maria Olbrichs, die tiefe Einblicke in die Zerrissenheit der Ausstellungsmacher von 1901 geben, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis des Architekten zu Peter Behrens. Für die Zeit von Albin Müller, dem Nachfolger und zweiten Chefarchitekten der Künstlerkolonie, verfügen Historiker ebenfalls über ein sehr persönliches Dokument: seine viele Jahrzehnte später, Ende 1939, verfasste Autobiografie „Aus meinem Leben“.
Rasanter Aufstieg eines Autodidakten
Obwohl wieder sieben an der Zahl hatte sich die personelle Zusammensetzung der Künstlerkolonie 1906 gegenüber der Gründergeneration stark verändert: Mit Ausnahme von Olbrich war keiner mehr mehr dabei. Sechs neue Mitglieder stießen hinzu, neben Albin Müller waren das der Bildhauer Heinrich Jobst, der Goldschmied Ernst Riegel, der Grafiker und Buchillustrator Friedrich Wilhelm Kleukens, der Glaskünstler Josef Emil Schneckendorf und der Keramiker Jakob Julius Scharvogel. Mit letzterem ist Albin Müller im Rahmen von Planungsgesprächen für die Ausstellung 1908 wohl aneinandergeraten. Das belegen jedenfalls seine Zeilen, in denen er über die Gespräche im „Kunstausschuss“ schreibt, dem er angehörte und dessen Vorsitzender Scharvogel war. Dabei ging es um die Gestaltung des Osthangs mit seinen temporären Bauten. Scharvogel konnte in einer entscheidenden Sitzung zunächst seine Position durchsetzen, Grundriss und Lageplans eines bestehenden Vorprojektes für einen öffentlichen Wettbewerb, der ausgeschrieben werden sollte, zu übernehmen. Müller hatte sich für ein alternative Herangehensweise eingesetzt, die auch die Möglichkeit für einen neuen Grundriss öffnete.
Zunächst hatte ich die Absicht, mich an der Ausstellung überhaupt nicht zu beteiligen. Dann sagte ich mir aber, daß das gerade nicht Zweck meiner Berufung sei, mich grollend in die Ecke zu verziehen. Deshalb hielt ich es für nötig, dem Großherzog den Standpunkt, den ich einzunehmen gedachte, zu erläutern […]. Aus diesen Erwägungen wuchs schließlich der Gedanke, mich selbst an dem Wettbewerb zu beteiligen, was ich vorher gar nicht erwogen hatte, weil ich mich auf dem Gebiete des Hochbaues noch nicht praktisch betätigt hatte.
Der Rest ist Geschichte. Albin Müller gewann den Wettbewerb und wurde mit der Ausstellung von 1908 vom bisher preisgekrönten Möbelgestalter und Raumkünstler zum Architekten. Noch oft sollte er sich bei der Umsetzung der Pläne für den Osthang hilfesuchend an den Großherzog wenden müssen. Scharvogel machte ihm scheinbar auch weiterhin das Leben schwer:
Meine Arbeit hierfür ging nicht ohne bittere Kämpfe vor sich. Von Anfang an stand ich, ohne es zu wollen, zu dem Vorsitzenden des Kunstausschusses im heftigsten Gegensatz. […] Gewisse Mitglieder des Kunstausschusses fanden, dass meine Betätigung doch recht umfangreich sei, was sie ja auch, dank meines Wettbewerbserfolges, in der Tat war.
Dabei hätte gerade Scharvogel Grund zur Freude gehabt. Dank Albin Müllers rückte der von ihm zusammen mit Jobst gestaltete Keramikhof für die Ausstellung von 1908 (heute noch im Jugendstilbad von Bad Nauheim zu sehen) von der Ecke in den Mittelpunkt des temporären Ausstellungsgebäudes für angewandte Kunst.
Neid und Missgunst schlugen ihm, dem Aufsteiger und Autodidakten oft entgegen – sei es von den Kollegen aus der Künstlerkolonie oder von der Darmstädter Architektenzunft. Und die Bevölkerung habe sich, so Müller rückblickend „gegenüber den Bestrebungen der Künstlerkolonie stets kühl und teilnahmslos“ verhalten. Er habe wie seine Vorgänger in „Darmstadt auf sandigem, unfruchtbarem Boden gestanden.“
Was bleibt?
Das klingt alles ein wenig verbittert am Lebensende, ist aber auch den schwierigen Umständen nach dem Ersten Weltkrieg und der grassierenden Inflation in den Zwanziger Jahren geschuldet, unter denen Müller sehr zu leiden hatte. Seine vielen Versuche, die Darmstädter Künstlerkolonie wieder zum Leben zu erwecken oder die Mathildenhöhe weiter architektonisch zu gestalten, scheiterten. Zudem blieben die Gehaltszahlungen des Großherzogs, dem er auch nach dessen Absetzung treu verbunden war, aus. Seine Ansprüche aus der unbefristeten Anstellung bei der Großherzoglichen Verwaltung musste er sich mühsam zehn Jahre lang erstreiten, erst 1929 kam es zu einem Vergleich. Irgendwann, spätestens in den Dreißigern gehörte er zum „alten Eisen“, war er für die Arbeiterpartei der Nationalsozialisten ein Mann der Bourgeoisie, und nicht einer für den Aufbruch ins „Dritte Reich“ – wenn auch sein völkisches Gedankengut der vorherrschenden Ideologie nicht fern war.
Es wird einsam um ihn. Er zieht sich zurück von der Welt, in die Poesie, in die Malerei, in seine Erinnerungen – und bewertet seine Zeit in der Künstlerkolonie Darmstadt als einen frühen Aufbruch in die Moderne:
Das, was von den Pionieren des Wohnungsbaues – zu denen ich mich auch zählen darf – vor Jahrzehnten tastend und dabei auch irrend, angestrebt wurde, bricht sich endlich unaufhaltsam Bahn. Dieser neue Stil […] ergab sich allmählich von selbst aus der Konsequenz einer sich aus neuen Bauelementen, klaren Konstruktionen entwickelnden, unverhüllten, gesetzmäßigen Formung.
Bemerkenswert! Und genau das ist es, was wir heute von Albin Müller als Architekten in Erinnerung behalten sollten: seine innovativen Beiträge zu modernen Wohnformen, seine frühen Beispiele für vorproduzierte Bauelemente, seine unbedingte Orientierung an den Bedürfnissen von Bewohnern und Nutzern. Der große Schatten und Mythos seines so früh verstorbenen Vorgängers lastete schwer auf ihn in Darmstadt. Er verglich sich selbst oft mit Olbrich, seine eigene Zeit als Leiter der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe mit der des Architekten aus Wien zuvor. Dem alles offensichtlich so viel leichter fiel als ihm selbst, „das begnadete Sonnenkind“, wie er ihn nannte. Doch der immerzu strebende Mann aus dem Erzgebirge, der schwermütigere und schwerer bauende von beiden, er muss den Vergleich nicht scheuen. Wenn man Architektur im Spannungsfeld zwischen Kunst und Handwerk betrachtet, ist Olbrich seinem Selbstverständnis nach eher als Künstler zu begreifen und Müller eher als ihr Konstrukteur mit Blick auf pragmatische Lösungen: Auf diesem Felde hat er seine Disziplin weit vorangebracht.

Dass er allein glänzen kann, das beweist auch die aktuelle Ausstellung im Ernst Ludwig-Haus: albinmüller3. Der Name Olbrich fällt hier nicht, das ist erkennbar Programm und auch das große Verdienst vom Institut Mathildenhöhe: Albin Müller zu präsentieren ohne ihn zu vergleichen mit seinem berühmten Vorgänger, ihm allein den Raum zu geben und darzustellen in seiner ganzen beeindruckenden Vielseitigkeit. Noch vier Tage ist Gelegenheit, sich in der ersten Einzelausstellung zu Albin Müller vertraut zu machen mit dem reichen Werk eines Architekten und Gestalters, den es definitiv zu entdecken gilt. Nach der Verlängerung schließt sie nun endgültig mit dem letzten Ausstellungstag am Sonntag, den 27. Februar 2022.
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Literatur:
Gutbrod, Philipp und Bornemann-Quecke, Sandra (Hrsg.) albinmüller3 – Architekt, Gestalter, Lehrer. Ausstellungskatalog der Mathildenhöhe Darmstadt, Justus von Liebig Verlag, 2021.
Babette Gräfe: Im Schatten des Meisterarchitekten Albin Müller und Joseph Maria Olbrich In: Mathildenhöhe Darmstadt (Hrsg.): Joseph Maria Olbrich, 1867 – 1908, Architekt und Gestalter der frühen Moderne. Katalog zur Ausstellung vom 7.2. – 24.5.2010, Ralf Beil, Regina Stephan, Hatje Cantz Verlag, Darmstadt, 2010, S. 379 – 385
Albin Müller: Aus meinem Leben, Typoskript mit Nachtrag, Darmstadt, ohne Jahr (nach August 1939), ausleihbar über die Universitäts- und Landesbibliothek. Zitate: S. 115 – 116, S. 181