
23 Quer möchte Sie heute einladen zu einem Spaziergang durch die Ausstellung von 1908. In diesem Jahr präsentierte sich nicht mehr die Künstlerkolonie dem Publikum wie noch 1901 und 1904. Das Ernst Ludwig-Haus und die berühmten Künstlervillen waren sogar explizit ausgeschlossen vom Ausstellungsgelände, wie ein Blick auf den historischen Plan zeigt. Stattdessen bot sich den Besuchern auf der Mathildenhöhe eine vollkommen neue Ausstellung, die sich in ihrer Ausrichtung gegenüber 1901 fast um 90 Grad gewendet hatte und nicht mehr entlang einer Achse von Süd nach Nord auf das Ernst Ludwig-Haus zu, sondern von Westen nach Osten über den ganzen Hügel lief. Mittelpunkt und absoluter Blickfang war der neue Hochzeitsturm mit Ausstellungsgebäude. Doch auch insgesamt hatte sich viel getan, insbesondere der vom Architekten Albin Müller gestaltete Osthang bildete einen weiteren Schwerpunkt der Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst von 1908.
Im Modell: Hochzeitsturm und Osthang. Blick von Osten auf die Mathildenhöhe.
Hessen-Darmstadt zeigte auf dem großen Gelände in einer Leistungsschau, was es in Sachen Kunst, künstlerischem Handwerk und Architektur alles zu bieten hatte. Diesen drei Disziplinen waren eigene Ausstellungsgebäude gewidmet, die um ein Freigelände für die Friedhofskunst, eine halbrunde Ladengalerie, eine Terrasse für die Gartengestaltung, drei repräsentative Villen sowie ein ganzes Wohnviertel mit Musterhäusern für den kleinen Geldbeutel komplettiert wurden. Geschlossener und stimmiger hat sich die städtebauliche Situation auf der Mathildenhöhe früher und später nie mehr wieder präsentiert.
Das Konzept für die generelle Platzgestaltung sowie für die neuen Ausstellungsgebäude am Osthang hatte Albin Müller entwickelt, der sich damit in einem Wettbewerb 1907 durchsetzte und für höhere Aufgaben qualifizierte. Er wurde nach Olbrichs frühem Tod im Sommer 1908 dessen Nachfolger als leitender Architekt der Darmstädter Künstlerkolonie.
Der Eingang: durch einen Tempel in den Platanenhain


Unser Rundgang in Bildern startet am Platanenhain. Denn durch diesen und ein tempelartiges Tor ging es damals hinein in die Ausstellung von 1908. Dort begrüßten zwischen den altehrwürdigen Bäumen Restaurationsgebäude und ein Gartenlokal die Besucher. An der Russischen Kapelle kam man damals außen nicht vorbei, auch der Zugang von Seiten der Künstlerkolonie war verschlossen, durch Pergolen war die Sicht auf das Gelände versperrt. Über allem erhob sich majestätisch der neue Hochzeitsturm.
Hinter dem Hochzeitsturm geht’s weiter: der Osthang
Gestern wie Heute war die Schauseite der Mathildenhöhe nach Westen ausgerichtet. Doch 1908 schloss man für die Ausstellung den gesamten Osthang mit ein und gestaltete das komplette Areal hinter dem Hochzeitsturm neu. Im Mittelpunkt stand das von Albin Müller entworfene „Gebäude für angewandte Kunst“, in dem das Handwerk und Kunsthandwerk seinen Platz fand. Hier präsentierten sich etwa die hoch angesehene Möbelfabrikation der Region und die großherzogliche Fliesenmanufaktur. Es handelte sich um ein massiv gebautes, zum Teil zweistöckiges Gebäude, dessen Baukörper sich um einen zentralen Innenhof gruppierten.

Von links nach rechts, von Nord nach Süd, geht es vorbei an Albin Müllers Gebäude für die angewandte Kunst und das Kunstgewerbe. Für das genoss er schon damals die Komplimente zeitgenössischer Kollegen, die ihn vor allen Dingen lobten für die flexible Raumaufteilung und die Zweckmäßigkeit des Gebäudes angesichts so vieler unterschiedlicher Aussteller mit ebenso vielen unterschiedlichen Bedürfnissen, was die Größe und den Nutzen der Standflächen betraf.
Der Osthang Gestern und Heute
Hatte man das „Gebäude für angewandte Kunst“ links passiert, ging es den heutigen Olbrichweg hinunter. Damals endete die Straße unten am „Gebäude für Architektur“, das gleichzeitig auch den östlichen Abschluss des gesamten Ausstellungsgeländes von 1908 bildete. Auf der rechten Straßenseite befanden sich drei großbürgerliche Villen, darunter auch das „Oberhessische Haus“ von Olbrich, das heute Sitz des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung ist. Sie sind auf der Luftbildaufnahme sehr gut zu erkennen. Weiter unten ging es damals rechts ab in die Mustersiedlung mit sechs unterschiedlich gestalteten Arbeiterhäusern, auf dem Bild nicht zu sehen.
Auf der linken Straßenseite spazierte man nach der Ecke oben an dem Ausstellungsgebäude für angewandte Kunst vorbei und hinunter bis zu einem halbrunden Bau, der sich leicht erhöht in die Straßenfront schob und über eine kleine Treppe zu erreichen war. Hierbei handelte es sich um eine von hellen Arkaden umsäumte Ladengalerie Albin Müllers. Sie stand ganz in Kontrast zu dem schweren Architektur-Bau ganz unten, der von ihm nur aus den Grundformen Quader, Würfel und Tonne konstruiert war.
Die Ladengalerie. Der Ausstellungsbau für die Architektur.
Eine Gartenterrasse mit Blick auf den Odenwald
Ebenfalls auf der linken Seite, aber auf vielen historischen Aufnahmen nicht sichtbar, lag leicht erhöht hinter der Ladengalerie eine ganz entzückende Gartenanlage. Diese großzügige Blumenterrasse hatte Albin Müller um ein quadratisches Wasserbecken angelegt, das von Pergolen, Blumenrabatten und Kübelpflanzen umrahmt war. Von diesem herrlichen Freigelände aus hatten die Besucher 1908 einen fantastischen Blick auf den östlichen Teil der Ausstellung wie auf die Ausläufer des Odenwalds.
Sie blühten nur für einen Sommer
Unfassbar, aber wahr: Alle in diesem Beitrag gezeigten Bauten und Außenanlagen von Albin Müller wurden nach Ende der Ausstellung 1908 wieder abgebaut – auch zum Leidwesen des Architekten. Zwar waren sie von Anfang an nur als temporäre Bauten geplant, doch das war angesichts der historischen Bilder nicht nur Heute, sondern damals bereits sehr zu bedauern. Die Konzeption Albin Müllers für das gesamte Ausstellungsgelände lobte schon Jurymitglied Oberbaurat Ludwig Hofmann einst mit überschwänglichen Worten: „Das ist das Ei des Kolumbus. Man möchte sich an den Kopf schlagen, daß man nicht selbst auf den Gedanken zu einer solchen Lösung gekommen ist.“
Solch ein „Ei“ bräuchten die aktuellen Stadtplaner, nach der Entscheidung der UNESCO und der deutlichen Aufforderung den Osthang als Teil des Weltkulturerbe-Geländes entsprechend zu schützen, auch wieder. Wie wär’s mit einer so paradiesisch schönen Gartenterrasse wie 1908?
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Quellen
Mathildenhöhe Darmstadt (Hrsg.): Joseph Maria Olbrich, 1867 – 1908, Architekt und Gestalter der frühen Moderne. Katalog zur Ausstellung vom 7.2. – 24.5.2010, Ralf Beil, Regina Stephan, Hatje Cantz Verlag, Darmstadt, 2010. Hier insbesondere das Kapitel:
- Babette Gräfe: Im Schatten des Meisterarchitekten – Albin Müller und Joseph Maria Olbrich, S. 379 – 385
Stadt Darmstadt, Kulturverwaltung und Hochbau- und Maschinenamt: Mathildenhöhe Darmstadt. 100 Jahre Planen und Bauen für die Stadtkrone 1899-1999. Band 1: Die Mathildenhöhe – ein Jahrhundertwerk, Darmstadt, 1999, 2. Auflage, 2004. Hier insbesondere die Kapitel:
- Albin Müller (Albinmüller), S. 46 – 51
- Mathildenhöhe – die Ostseite. Pläne, Projekte, Perspektiven (von Jochen Rahe), S. 154 – 163
Magistrat der Stadt Darmstadt, Denkmalschutz – Kulturamt: Die Darmstädter Mathildenhöhe. Architektur im Aufbruch zur Moderne. Zwei Spaziergänge zu den Bauten der Jahrhundertwende. Beiträge zum Denkmalschutz in Darmstadt, Heft 7, Darmstadt, 1998, 2. Auflage, 2003
Das Modell von 1908 ist Teil der ständigen Ausstellung des Museum Künstlerkolonie im Ernst Ludwig-Haus und gibt einen fabelhaften Überblick über die gesamte Anlage. Es wurde für diesen Beitrag abfotografiert. Die historischen Aufnahmen der Mathildenhöhe sind mehr als 50 bzw. 70 Jahre alt und damit rechtefrei. Sie sind den hier aufgeführten Quellen entnommen und für diesen Beitrag ebenfalls abfotografiert worden.
Liebe Frau Wochnik,
herzlichen Dank für diesen wie immer vorzüglichen Beitrag, allerdings vermisse ich ein meiner Meinung wichtiges Detail: der Eingangshof zu Albin Müllers Ateliergebäude ist nicht abgerissen worden, sondern transloziert worden nach Bad Nauheim und ist seit dem der Schmuckhof des Badhauses 7 des Sprudelhofs. Wir haben vor einigen Jahren als Sissy Geiger noch in Darmstadt war mit einem großen Transparent angebracht an der Stelle wo heute die Waschbetonwand der HDA ist darauf hingewiesen.
Herzlichen Gruß,
Hans Gerhard Knöll
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