Die Überraschung war auch für den Gastgeber eine große: Mit einem Modell der kompletten Anlage ganz aus köstlichem Fruchteis feierten Freunde und Mitarbeiter Anfang 1906 im Haus Olbrich die Genehmigung der eingereichten Pläne im Maßstab 1:100 durch die städtischen Gremien. Denn für den leitenden Architekten der Künstlerkolonie Darmstadt und sein Büro war dies der Startschuss zum Bau von Hochzeitsturm und neuem Ausstellungshaus – und definitiv eine riesige Eistorte wert. Es war auch einfach zum Dahinschmelzen: Ihnen war gelungen, eine Mehrheit von 28 gegenüber 10 Stimmen der Stadtverordneten von ihrem Entwurf für dieses bis dahin größte Bauprojekt auf der Mathildenhöhe zu überzeugen. Der Trick dabei: Offiziell erfolgte die Kommunikation sowie die Übergabe der von Olbrich vollständig überarbeiteten städtischen Entwürfe nur durch den Großherzog Ernst Ludwig persönlich. Nur seine Wünsche für diesen Bau wollte man seitens der Stadt erfüllen, schließlich war er der Beschenkte.

Anlässlich seiner Vermählung mit Eleonore von Solms-Hohensolms-Lich am 2. Februar 1905 wollten ihm die Stadtväter zur Erinnerung an diese Hochzeit, seine zweite, ein Monument von ewiger Dauer überreichen. „Zur Bedingung wurde dabei gemacht, daß Herr Professor Olbrich nur so weit an der Verwirklichung des Projektes mitarbeiten sollte, als er Vermittler der Wünsche des Großherzogs sei. Irgend welche Honorarzahlung seitens der Stadt sei abzulehnen“, so lauteten die Vorgaben der Stadtverwaltung. Letztendlich wurde Olbrich dann doch mit 6.000 Mark Honorar abgefunden. Auch die Ausführung der Bauten lag offiziell beim Stadtbauamt, nicht bei Olbrich. Mit dieser speziellen Konstruktion der Verantwortlichkeiten gelang es dem Großherzog aber, seinen Wunsch durchzusetzen und wieder mit Olbrich für sein äußerst persönliches Bauprojekt auf der Mathildenhöhe zusammenzuarbeiten. Geplant war eine Eröffnung beider Gebäude 1908 zur Hessischen Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst auf der Mathildenhöhe.
Herrschaftliches Denkmal zur Hochzeit: Vom Triumphbogen zum Turm
Die Idee zu einem Turm auf der Mathildenhöhe reifte schon seit geraumer Zeit in Olbrich. Schon 1900, lange vor dem konkreten Ereignis zum Bau eines Hochzeitsturms, gab es erste Fingerübungen des Architekten, um dem Gipfel des großherzoglichen Hügels in Darmstadt mit einem Turm eine Krone aufzusetzen. Das ist sogar ganz wörtlich zu nehmen: Zeichnungen von Olbrich aus dieser Zeit spielen mit einer Krone als eine Art Topzeichen auf filigranem Rundbau. Inspiriert wurde der Architekt vermutlich auch von dem weithin bekannten Sujet des romantischen Aussichtsturms. Und der damals vielerorts praktizierte Bau von Wassertürmen ließ fast schon automatisch den Gedanken an einen Turm aufkommen, schließlich befand man sich oben auf dem Gelände des Wasserreservoirs der Stadt. Doch als dann die Vermählung des Regenten der konkrete Anlass zum Bau war, änderte Olbrich sein Konzept. Es war nicht mehr ein runder Turmbau, sondern ein breiter Triumphbogen, der sich zur Huldigung der hohen Herrschaften als Grundform anbot. Vorbilder für solche Hochzeitsbögen lieferte die Geschichte einige und so gibt es eine Reihe von Entwürfen von 1905 in denen Olbrich diesem Motiv folgte.
Sehr früh zeigen sich schon die quer laufenden Fensterriegel, auch der Mittelfries über dem Eingang ist von Anfang an ein Gestaltungselement bei Olbrich. Aber lange sind es zwei unabhängige Turmsäulen, die oben mit einem Bogen zu einer Einheit verbunden werden. Die Dachgestaltung variiert von haubenartigen Abschlüssen zu sehr expressiven Spitzen bis schließlich zu fünf kleinen runden Kuppen, die sich treppenförmig auf- und wieder absteigend aufbauen. Anfangs sind sie noch sehr gedrungen, bis diese sich zu der später im fertigen Entwurf so prägenden Form der fünf langen Finger strecken. Eine Anekdote erzählt, dass der Großherzog es dem mit seinen Entwürfen hadernden Architekten nahegelegt haben soll, aus den Fingern der mahnend erhobenen Hand, eine Form zu finden. Sicher ist jedenfalls, dass das Gebäude ursprünglich in Beton, dem ganz neuen Baustoff der damaligen Zeit, errichtet werden sollte. Doch das war dem Bauamt angesichts der Höhe statisch zu riskant, es fehlte noch die Erfahrung mit dem Material. So schwenkte Olbrich ganz schnell um: „No also“, soll er auf Wienerisch gesagt haben, „dann wird der Turm aus Klinkern.“ So geschah es, und auch dieses Mal leistete der Großherzog seinen Beitrag:
Da riefen mich die Arbeiter herauf, weil Olbrich klagte, die Mauern sähen so glatt und hart aus. Ich probierte mit ihnen herum. Zuletzt fand ich die Art heraus, wie man die Ziegel ganz unregelmäßig aneinander legen müsse. Olbrich kam und war sehr zufrieden über die Bauart. So ist der Hochzeitsturm eigentlich von mir aus gemacht worden.
Ernst Ludwig in seiner biografie „Erinnertes“
Vom ursprünglichen Gedanken eines Triumphbogens ist noch das außergewöhnliche Querformat für einen Turm übriggeblieben mit einem Seitenverhältnis von 2:1 zwischen Breite und Tiefe. Auch das vom Bildhauer Heinrich Jobst gestaltete Relief, das mit seinen Allegorien zu Stärke, Gerechtigkeit, Weisheit und Milde den Herrscher preist, ist noch ein Relikt der Ursprungsidee. Doch dann wird alles anders und neu: Über dem triumphalen Sockel erhebt sich eine rhythmisch durchkomponierte Klinkerfassade, die von über Eck laufenden Fernsterbändern gehalten und strukturiert wird. So etwas hat es noch nie zuvor gegeben und wird erst viele Jahre später ein Gestaltungsmittel moderner Architekten. Die kubisch schwere Geschlossenheit der Klinkerfassade geht oben über in seine fünf berühmten Finger-Bögen, die sich aus Stein und Glas ganz leicht Richung Himmel erheben und auf Höheres verweisen. Sie geben dem Gebäude seinen besonderen Glanz – besonders In der Abendsonne des Westens, wenn sie wie eine goldene Krone über Darmstadt strahlen.
Olbrichs Vermächtnis: Stadtkrone und Architekturdenkmal
Mit dem Hochzeitsturm bekam Darmstadt 1908 sein bis heute markantes Wahrzeichen. Entworfen von Joseph M. Olbrich – ausgerechnet von dem Mann, der offiziell möglichst nicht in Erscheinung treten sollte bei diesem Geschenk der Stadt an ihren verehrten Großherzog. Zusammen mit dem Ausstellungshaus bildeten die beiden Gebäude fortan den Mittel- und Blickpunkt der Mathildenhöhe, die sich nun weithin sichtbar der Stadt von ihrer schönsten Seite zeigte. Olbrichs Hochzeitsturm für Darmstadt ist ohne historisches Vorbild, ein ganz eigener und neuer Wurf, eine Aufforderung, die „inneren Gesetze der Baukunst von jahrhundertelanger Überwucherung zu befreien und wieder neu aufzustellen“ (Erich Mendelsohn, 1930). Durch seinen plötzlichen Tod im August 1908 wurde der Hochzeitsturm zusammen mit dem Ausstellungsgebäude auch gleichzeitig Olbrichs eigenes Denkmal und Vermächtnis, an dessen herausragender Qualität man heute keinen Zweifel mehr hat. In einem Fachbuch aus dem Jahr 1949 zählte ihn der amerikanische Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner bereits zu den „Pioneers of Modern Design – from William Morris to Walter Gropius“. Auf dessen Cover ist der Darmstädter Hochzeitsturm in einer Reihe etwa mit dem Pariser Eiffelturm oder Mackintoshs School of Art in Glasgow zu sehen. Auch die weltbekannten Architekten Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright – sie schauten alle im Laufe ihres Lebens ein Mal persönlich in Darmstadt vorbei, um sich von den Bauten Olbrichs, diesem frühen Meister der Moderne, inspirieren zu lassen. Auch die Idee, den Hochzeitsturm mit Eis zu feiern, hat schon Nachahmer gefunden: Der Darmstädter Illustrator Jens Rotzsche kam 2018 beim Nachdenken über Kunst und Kommerz auf die Idee, seine fünf Finger als buntes Eis am Stil anzubieten. Warum eigentlich nicht? Eis und Hochzeitsturm, das gehört schon seit den Anfängen, seit der Olbrich’schen Feier von 1906, einfach zusammen!

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Quellen
Die Feier mit der Eistorte ist von Jakob Krug, einem Mitarbeiter aus dem Büro Olbrich, überliefert und nachzulesen im dritten Band von
- Stadt Darmstadt, Kulturverwaltung und Hochbau- und Maschinenamt: Mathildenhöhe Darmstadt. 100 Jahre Planen und Bauen für die Stadtkrone 1899-1999, Ausstellungshallen und Hochzeitsturm, Zustimmung zum Entwurf, März 1906, S. 53.
Eine weitere Quelle ist Mathildenhöhe Darmstadt (Hrsg.): Joseph M. Olbrich, 1867 – 1908. Katalog zur Ausstellung anlässlich des 75. Todestages von Olbrich. Konzeption: Bernd Krimmel, Sabine Michaelis, Darmstadt, 1983. In dem Band sind auf Seite 48 auch die drei frühen Entwürfe für den Hochzeitsturm zu sehen, die für diesen Beitrag abfotografiert wurden. Desweiteren wurden aus diesem Werk die folgenden zwei Kapitel genutzt:
- Hans-G. Sperlich: Problemkreis Hochzeitsturm, S. 37 – 55
- Klaus Wolbert: „…wie ein Tempel in einem heilgen Haine“, S. 57 – 81
Das Zitat von Ernst Ludwig ist seiner Biografie entnommen:
- Eckhart G. Franz (Hrsg.): Erinnertes. Aufzeichnungen des letzten Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein. Mit einem biographischen Essay von Golo Mann, Eduard Roether Verlag, Darmstadt, 1983, S. 160 – 161