Hereinspaziert, die Zweite! Mitten im Bild

Erste Aufgabe: Denken Sie sich die Pfosten weg! Die haben hier am Eingang zum Platanenhain künstlerisch so rein gar nichts zu suchen. Denn, was wir hier auf der Mathildenhöhe sehen und nur kurze Zeit später betreten, ist schon an dieser Stelle scheinbaren Leerraums Teil eines Kunstwerks von Bernhard Hoetger – eines ziemlich großen allerdings. Es reicht vom Eingang bis ganz hinüber ans andere Ende zu einer Skulpturengruppe mit drei schlanken Frauenfiguren, krönender Teil eines von dichtem Efeu umrankten Brunnens. Wie die Linien einer Zentralperspektive leiten die Platanenbäume unseren Blick zu diesem 40 Meter entfernten Fluchtpunkt.

Wer sich vor den Eingang des Platanenhains stellt – in die Mitte, zwischen den beiden Granitblöcken mit den wilden Tieren oben – wird daher fast magisch hinein gezogen in den geschützen Hain. Geschickt hat Hoetger seine beiden Monumente, die Eingangspfeiler rechts und links, positioniert: Der Abstand zwischen ihnen ist ganz bewusst ein wenig breiter als der Abstand zwischen den Platanen dahinter. So wird unser Blick automatisch in die Tiefe gelenkt.

„Bei der formalen Eingliederung der Skulpturen in den Platanendom achtete Hoetger sorglichst auf die naturgegebenen Bedingungen. Es galt, eine Menge verschiedener Plastiken untereinander und in ihrem Verhältnis zu der Bäumearchitektur als vollkommene Einheit zu bilden und doch jeder einzelnen Arbeit gesondert ihre stärkste Wirkungsmöglichkeit zu verschaffen“, schreibt sein Zeitgenosse Hans Hildebrandt 1915. Und weiter: „Er wog Höhe und Breite der die wichtigsten Skulpturen beherbergenden Rechtecknischen so ab, daß die Bildwerke, ohne gedrückt zu werden, doch den von den Pfeilerreihen der Bäume, den Wölbungen ihrer Kronen und dem Boden geformten Rahmen mächtig quellend füllen; Die Fernwirkung ist aufs genaueste berechnet, […] der Brunnen aber hatte auch den sich dem Portal erst Nahenden zu locken.“

Wenn ein Bildhauer malt

Ja, das Zitat trifft es schon gut: Es sind „Bildwerke“, die uns Hoetger auf dem Platanenhain präsentiert. Zwar arbeitet der Bildhauer im Dreidimensionalen mit seinen Plastiken, Skulpturen und Reliefs, aber im Grunde betreibt er Malerei: Er malt mit Stein und der Natur. Hier im Eingang gelingt ihm das mit der Zentralperspektive und dem Blätterdach der Platanen. Doch auch seine vier über den Hain verteilten Figurenreliefs sind nichts anderes als in Stein gemeißelte Bilder, wie etwa beim Bildband vom Frühling. Auch bei diesen bildet der Stein des Sockels und das Blattgrün der Nische den natürlichen Rahmen.

Eingang, zweite Aufgabe: Schließen sie ein wenig ihre Lider, wie beim Blinzeln, dann ist der Effekt noch stärker. Die Eingangssituation verschmilzt dabei optisch zu einem flachen Gemälde. Es zeigt sich dem Auge des aufmerksamen Betrachters ein Tableau wie in einem englischen Landschaftsgarten, dessen Rahmen an den Seiten von den beiden Eckpfeilern, unten vom weißen Boden und oben vom grünen Dach der Bäume begrenzt wird.

Der „Gemälde-Effekt“ stellt sich am Besten ohne störende Pfosten und bei komplett geschlossenem Blätterdach ein. Auf diesem Bild, einer abfotografierten und bearbeiteten Aufnahme aus dem aufwändig illustrierten Band „Bernhard Hoetger. Der Platanenhain“, herausgegeben 2013 vom Institut Mathildenhöhe, ist das vielleicht noch ein bisschen besser zu erspüren:

Tableau Platanenhain

Hereinspaziert ins Gemälde!

Wer in den Platanenhain schreitet, der geht also eigentlich hinein in einen Bilderrahmen, betritt ein Gemälde der Natur im Großformat. Gleichzeitig wird er damit auch selbst zum Teil des Monumentalkunstwerks. So ist der Besucher bildlich mitten drin im Zyklus des Lebens, dem ewigen Entstehen und Vergehen, dem sich der heilige Hain seit der Ausstellung von 1914 bis heute in all seinen Facetten so einmalig widmet.


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