In diese Ausstellung hätte Bernhard Hoetger, Bildhauer der Darmstädter Künstlerkolonie, auch bestens hinein gepasst: Das Frankfurter Städel widmet sich gerade in einer Sonderschau den Impressionisten. Nicht den Malern dieser Kunstrichtung, sondern den plastisch arbeitenden Künstlern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. En passant. Impressionismus in Skulptur ist ihr Thema. Die Kleine 14-jährige Tänzerin von Edgar Degas rechts war 1881 der Anfang einer Diskussion über die Frage, ob etwas so Statisches wie eine Skulptur überhaupt impressionistisch sein könne? Es gab nur sehr wenige impressionistische Bildhauer im Vergleich zu der großen Zahl impressionistischer Maler. Einer, der das Licht auf Frauenfiguren mit wallenden Abendroben tanzen ließ, war der etwa wenig bekannte Paolo Troubetzkoy mit links Nach dem Ball von 1897, auch zu sehen in Frankfurt.
In der Mitte dann Bernhard Hoetger mit seiner Skulptur der Tänzerin Loie Fuller von 1901. Nicht zu sehen in Frankfurt.
Nun, Hoetger gilt als Pionier des Expressionismus. Doch seine Anfänge als professioneller Bildhauer hat er in Paris gemacht. Hier lebte er als junger Mann von 26 Jahren voller Begeisterung über die künstlerische Energie, die diese Stadt durchströmte. Hier lernte er sie alle kennen, die großen Bildhauer der Zeit, auch Degas. Aber vor allem beeindruckte Auguste Rodin, der mit mehr als zwei Dutzend Kunstwerken ebenfalls in der Frankfurter Ausstellung dabei ist.
Die Werke Rodins begeisterten ihn mit ihrer in ein Spiel von Licht und Schatten aufgelösten Kräftedynamik, und die Lehren des Impressionismus befruchteten seine leidenschaftliche Empfänglichkeit.
Aus dieser Pariser Zeit stammt auch Hoetgers Tänzerin aus Bronze oben, die mit schwungvoller Bewegung die Luft geradezu einfängt. Man hört förmlich das Rauschen des Kleides in diesem Moment, dieser Impression eines flüchtigen Augenblicks. Genau im Entstehungsjahr der Loie Fuller eröffnete in Darmstadt die erste Ausstellung der Künstlerkolonie 1901 ihre Pforten. Aber wie auch Hoetger entwickelten sich seine späteren Kollegen weiter, vom Jugenstil in seiner floralen Spielart über geometrische Figuren zu den Ausdrucksformen eines funktionalistisch-expressionistisch werdenden 20. Jahrhunderts. Wie an so vielen Bauten und Mitgliedern der Darmstädter Künstlerkolonie kann man auch im Werk und Leben von Bernhard Hoetger beispielhaft den Weg in die Moderne nachzeichnen, in seinem Fall für die Disziplin der Bildhauerei.
Von seinen impressionistischen Frühwerken, die auch vom aufkommenden Jugendstil inspiriert waren, wandte sich Hoetger noch zur Pariser Zeit und beeinflusst vom Bildhauer Aristide Maillol strengeren und geschlosseneren Formen zu. 1907 kehrte er zurück nach Deutschland und vermittelt durch den Wuppertaler Kunstmäzen August von der Heydt nach Darmstadt, wo er den Auftrag erhielt, für die nächste Ausstellung der Künstlerkolonie, 1914, den Platanenhain auf der Darmstädter Mathildenhöhe plastisch auszugestalten.
Der Platanenhain: Impressionistisch – Expressionistisch
Ein Monumentalkunstwerk hat Hoetger dort erschaffen: Mehr als 20 einzeln stehende Schalen und Figuren, dazu massive Pfeiler, eine Brunnenanlage, vier großformatige Reliefbilder, ein riesiges Denkmal – über 30 Bildhauerarbeiten mit mehr als 60 Tier- oder Menschenfiguren sind hier in einzigartiger Weise zu einem erzählerischen und malerischen Programm komponiert, dass sich dem ewigen Zyklus des Lebens widmet. Ein gewaltiges Ensemble, das schon auf den späteren Expressionisten und den herausragenden Transformator der Moderne in Europa verweist. Doch hier und da blitzt der Impressionist in ihm wieder auf.
Schon während Hoetger an den Plastiken des Platanenhains arbeitete, hub eine neue Entwicklungsphase für ihn an […] ; aber all der Reichtum, den Hoetger sich inzwischen angeeignet und all die Kenntnis um die Wunder des Lichts sind unauffällig und nur dem Gefühl erspürbar hineinverwoben.
Was kann die Skulptur besser als die Malerei? Diese Frage in dem alten Wettstreit der Disziplinen stellt auch die FAZ in ihrem Artikel zur Kunstausstellung im Städel. Ganz klar ihre Antwort: auf jeden Fall Haptik und körperliche Präsenz. Eine Plastik kann man anfassen, ihre Oberfläche fühlen. Sie ist dreidimensional, räumlich. Und diesen Vorteil nutzt Hoetger beim Platanenhain in Darmstadt auch wei-(t)-lich aus. Über eine Strecke von 80 Metern Länge und 40 Metern Breite erstreckt sich das Gesamtkunstwerk im Raum – wahrhaftig ein monumentales. Körperliches ist in allen Ecken spürbar. Denn viele Menschen sind es, die in den verschiedenen Phasen ihres Tages, ihrer Jahreszeit, ihres Lebens, auf dem lichten Hain in regelmäßigem Rhythmus immer wieder als Skulptur oder im Relief erscheinen.
Sie haben so überhaupt nichts Flüchtiges. Es geht hier nicht um den Augenblick, sondern um Ewiges, ewig Gültiges. Kein bißchen Impressionismus. Aber dennoch erscheint alles sehr belebt. Denn Hoetger versteht das Spiel mit Licht und Schatten, das wird besonders bei den vier großen Reliefbildern spürbar, die die Eckpunkte des langen Hains bilden: Frühling, Sommer, Schlaf und Auferstehung.

Ganz geschickt nutzt Hoetger die Natur, hier das Blattwerk des Platanendachs, als seinen Mitspieler, um den so in sich ruhenden, fast schon meditierenden Figuren seiner vier Gruppen, Leben einzuhauchen. Die Blätter werfen im Sommer viele kleine Schatten auf die Köpfe und Körper aus Stein. Wenn der Wind durch das Platanendach säuselt, wenn die Blätter der Bäume und des Efeus, das alles umrahmt, zittern, dann fangen die Licht- und Schattenpunkte auf den unbeseelten Bildhauer-Figuren an sich zu bewegen und den Stein zu beleben: Es flirrt! Wie bei den Impressionisten!
Und wer sagt denn, dass ein Bildhauer nicht malen kann: Sind nicht die vier Reliefgruppen wie Bilder konzipiert? Mit dem Meißel gemalte Bilder? Mehrfach gerahmt von Stein und Grün? Alles war einst farbig auf dem Platanenhain. Viel Blau und Gold war zu sehen, dazu Gelb, Orange und Grün, sogar Rottöne vereinzelt. Lebendiger kann man eine Skulptur kaum gestalten, da war so gar nichts vom üblichen kalten weißen Marmor antiker Menschendarstellungen. Das Licht der Sonne und das Schattenspiel der Bäume taten ihr Übriges zu einem lebendigen Farbeffekt, der heute kaum noch zu erahnen ist, wo sie fast komplett verblasst sind.
En passant auch im Platanenhain
Noch an anderer Stelle kann Hoetger auf dem Platanenhain impressionistisch punkten: durch Bewegung. Denn sein Kunstwerk erobert man sich nicht im Stehen. Im Gehen erschließt sich erst seine Kunst, die Gestaltung des Eingangs mit seiner Zentralsperspektive auf die Brunnengruppe soll genau dieses beim Besucher auslösen. Nur im Vorbeigehen lässt sich das Kunstwerk als Ganzes betrachten, eine statische Position wird ihm nicht gerecht. Erst im Absolvieren des gesamten Parcours erschließt sich dem Betrachter das zentrale Thema des Werden und Vergehens, und vor allen Dingen das Zyklische der Natur. Am Ende, am Reliefbild der Auferstehung, beginnt alles wieder von Neuem: Ein neuer Anfang, neues Leben.
Flirrende Effekte, das Spiel mit Licht und Schatten, Wärme und Lebendigkeit durch Farbe sowie die Bewegung im und durch den Raum: Das alles macht den Platanenhain der Darmstädter Mathildenhöhe auch zu einer impressionistisch inspirierten Skulptur – der wohl einzig monumentalen weit und breit. Frankfurt ist herzlich eingeladen, vorbeizuschauen. En passant, natürlich!
Das Gesamtkunstwerk des Platanenhains aber steht auf der Grenze beider Schaffenszeiten, schließt die Vergangenheit und öffnet die Zukunft.
Nachschlag
Die Ausstellung En passant. Impressionismus in Skulptur im Städel Museum Frankfurt ist wieder eröffnet und bis zum 25. Oktober 2020 dort zu sehen. Öffnungszeiten, Preise und Hinweise zu besonderen Corona-Schutzmaßnahmen und -Regeln finden sich auf der Website des Museums: https://www.staedelmuseum.de/de
Und auch die Darmstädter Dame aus Bronze ist öffentlich ausgestellt: im Museum Künstlerkolonie des Institut Mathildenhöhe. Gleich im ersten Raum der Dauerausstellung ist sie zu finden. Hier dient das Frühwerk Hoetgers als Beispiel für den Jugendstil in der Skulptur. Und genau wie in Frankfurt steht auch hier die den luftigen Rock schwingende Figur in Korrespondenz zu einem zeitgenössischen Gemälde: dem hinter ihr hängenden Frühlingssturm des Ludwig von Hofmann, entstanden um 1894/95. Auf diesem Bild, das als Symbol für die besondere Aufbruchstimmung der Zeit gilt, flattern ebenfalls die Röcke ganz luftig, bringen frischen, jugendlichen Wind hinein in den Raum.
Alle relevanten Informationen für Besucher finden sich auf der Website des Museums, das seit 12. Mai 2020 wieder für Publikumsverkehr geöffnet ist: http://www.mathildenhoehe.eu/information/oeffnungszeiten-and-eintrittspreise/. Der Platanenhain auf der Mathildenhöhe ist als öffentlicher Park jederzeit kostenlos zugänglich.
Quellen:
1. Die großgestellten Zitate sind allesamt von Hans Hildebrandt, ein Zeitzeuge und Autor des ersten Buches über den Platanenhain von 1915: Hildebrandt, Hans: Der Platanenhain. Ein Monumentalwerk Berhard Hoetger’s, Verlag Paul Cassirer, Berlin
2. Mathildenhöhe Darmstadt, Ralf Beil und Philipp Gutbrod (Hrsg.): Bernhard Hoetger. Der Platanenhain. Ein Gesamtkunstwerk auf der Mathildenhöhe Darmstadt, 26. Mai bis 25. August 2013, Ausstellungskatalog
3. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Fanatiker flirrender Silhouetten von Stefan Trinks, 10. Mai 2020