Im ewigen Zyklus der Jahreszeiten beginnt nun eine der schönsten Episoden im Kalender: Genau heute erwacht auf der Nordhalbkugel der Frühling! Der richtige Moment also, um kurz auf den Platanenhain zu schwenken, durch das Portal mit dem Leoparden und dem Silberlöwen zu gehen, auf den gegenüberliegenden Brunnen zu und sich dann nach rechts Richtung Hochzeitsturm zu drehen – dann steht man vor ihm: dem Frühling. Denn genauso hat Bernhard Hoetger sein Gruppenbild aus elf Figuren genannt, dem man sich unversehens gegenüber sieht.
Es ist eins von vier Reliefbildern, die er ab 1912 für die vierte und letzte Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie von 1914 gearbeitet hat, und die eine gestalterische Gesamtkomposition bilden: Frühling und Sommer, Schlaf und Auferstehung. Zwischen diesen Polen bewegt sich das Leben im immerwährenden Kreis. Die vier Reliefs bilden die Eckpunkte eines einmaligen Skulpturenparks, der diese Geschichte unter dem Blätterdach des Platanenhais immer wieder neu erzählt. Sie sind Teil eines umfangreichen künstlerischen Programms, bei dem sich Hoetger seine Inspiration aus vielen unterschiedlichen Welten und Religionen geholt hat.
Es sind Bildhauerarbeiten, doch sie wirken wie Gemälde aus Stein, erinnern sehr an die naturalistischen Südsee-Motive eines Paul Gauguin. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die bunte Bemalung der Figuren, die heute verblasst ist und nur noch an wenigen Stellen sichtbar. Hier hat jemand seinen Pinsel mit dem Meißel geführt.
Im Frühling, wie auch den in den anderen Reliefs, bilden sich drei Gruppen aus jeweils zwei stehenden Figuren. Zwischen diesen sechs Stehenden befinden sich fünf sitzende Figuren. Das ist die Grundstruktur der gut drei Meter langen und etwa zwei Meter hohen Steinbilder, deren horizontale Blickachsen über die Schultern der stehenden und die Köpfe der sitzenden Figuren streifen. Ein ständiger Rhythmus des Auf und Ab, der den Takt für jedes der vier Reliefs vorgibt, die alle nach diesem Prinzip gestaltet sind. Innerhalb dieser gestalterischen Struktur spielt Hoetger dann sehr einfallsreich mit seinem Thema. Das macht dann auch die Spannung beim Betrachten aller vier Motive aus: Das Wiedererkennen des Gleichen, aber auch des Neuen in jedem dieser Reliefs. Die Kunst der Fuge – übersetzt von der Musik in die bildende, bildhauende Kunst.
Wie alle anderen des Quartetts ist der Frühling gleich mehrfach gerahmt. Einmal von einer sehr flächig gehaltenen Einfassung aus dunkelgrauem Lungstein, dessen Sockel eine Inschrift mit mythisch-mystischem Bezug aus dem indischen Kulturkreis besitzt. Darüber hinaus wird es von einem großen Rankgitter hinten und an den Seiten eingefasst, so dass mit der Zeit ein Rahmen aus lebendigem Efeugrün um die Frühlingsfiguren wachsen kann. Ein goldenes Gitter mit Vögel- und Blumenmotiven bildet den unteren Abschluss des äußeren Rahmens. Viele Jahre fehlten das Gitter und die Rankrahmen, die so wichtig für das Konzept und den räumlichen Gesamteindruck sind. Durch bürgerschaftliches Engagement konnten diese neu erstellt und wieder aufgestellt werden. Seit Sommer 2019 sind sie wieder alle vier im Originalzustand restauriert.
Ganz besonders schöne Aufnahmen vom Frühling – bei bestem Licht eines Sommerabends – finden sich hier, auf der Webseite des Vereins der Freunde der Mathildenhöhe. Dieser hat mit Spenden und persönlichem Einsatz die Wiederherstellung des Rankgitters für das Relief ermöglicht. Nun spielt das Grün des Efeus mit den Frühlingsfiguren: Die Licht- und Schattenspiele der Blätter bringen Bewegung hinein und hauchen dem Stein so viel Leben ein wie einst die Bemalung.
Die originale Farbgebung Hoetgers hat sich witterungsbedingt nur an wenigen Stellen noch erhalten. Doch dank eines Buches, das bereits 1915 erschienen ist (Der Platanenhain. Ein Monumentalwerk Bernhard Hoetger’s), können wir uns ganz gut eine Vorstellung von der damaligen, sehr farbigen Situation machen. Hans Hildebrandt schreibt darin:
Wie keusch und halbbewußt, wie anmutig gebunden und sehnsüchtig regen sich die schlanken Gestalten des „Frühlings“! Der Farbenakkord ist gedämpft und leise: Grau die nackten Körper, durch olivgrüne Untermalung vor allzu leuchtender Helle bewahrt; orangefarben das Haar der Stehenden, grauschwarz das der Knieenden, die gelborangene Gewänder tragen; terrakottarot die Schalen, mit deren Naß die Jünglinge und Mädchen die gelbgrünen von Vögeln bevölkerten Pflanzen begießen; graublau der Hintergrund und dunkel.
Die Vögel sind da, das Grün sprießt, die ersten Blumen blühen: Junge Menschen werden bald erwachen aus ihrem Schlaf, wie die Natur ringsherum. Ja, der Frühling ist in diesem Relief wirklich überall zu spüren. Für die Inschrift der Sockel hat Hoetger eine eigene, sehr flächige Blockschrift sowie Schmuckelemente entworfen. Mit ein bißchen Geduld und Übung lässt sie sich aber entziffern. Versuchen Sie es selbst!
E S I S T E I N E W G E S D A S W A N
D E L T U N D D A S B L E I B T
D A S I N S I C H S E L B E R R U H T
U N D R U H E L O S T R E I B T
(Spruch aus dem indischen Epos Krischnas Weltengang)
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Ein Kommentar zu „Frühlingserwachen“