Wer nicht vor Ort sein kann, um sie Reihe für Reihe abzuschreiten und zu zählen, für den lohnt sich ein Blick auf diesen Grundriss, der 1915 in einem Buch von Hans Hildebrandt über den Platanenhain veröffentlich wurde:
Von links nach rechts, vom Hochzeitsturm am östlichen bis zum Denkmal der Sterbenden Mutter mit Kind am westlichen Ende, sind es genau 23 Querreihen zumeist prächtiger Platanenbäume, die ein sehr langes Rechteck bilden. Eine etwas ungewöhnliche Zahl, aber sie ist nun mal Fakt und fast schon symbolisch für die Mathildenhöhe mit ihren 23 Künstlerkolonisten und ihrem Mäzen Ernst Ludwig, der mit 23 Jahren Regent wurde.
Die Zahl der Längsreihen, die man vom Eingang im Süden (auf der Karte oben) bis zur Brunnengruppe gegenüber passiert, ist weniger auffällig: Es sind acht. Man kann den Platanenhain daher auch als eine riesige Kirche unter freiem Himmel betrachten, mit sieben äußerst langen Schiffen zwischen den acht Baumreihen, der Eingangsachse als Querschiff und dem Denkmal im Westen als Apsis. Doch das wäre ein wenig zu eng gegriffen und würde dem Platanengarten insbesondere nach der umfassenden künstlerischen Ausgestaltung durch Bernhard Hoetger von 1912 – 1914 in keinster Weise gerecht werden.
Der Bildhauer und Wegbereiter des Expressionismus hatte alles andere im Sinn als ein kirchlich-christliches Programm. Ihm ging es vielmehr um die Offenheit und Verschmelzung unterschiedlicher religiöser Welten – vom Sonnengesang eines Echnatons, über Buddha und Krishna bis zum heimischen Goethe. Hoetger wurde in vielen Kulturkreisen fündig bei seiner Suche nach den existentiellen Fragen und den ewigen Kreisläufen allen Lebens, zwischen Tag und Nacht, zwischen Geburt und Tod, zwischen Anfang und Ende.
In Skulpturen, Reliefwänden und Inschriften geht er diesen auf dem Platanenhain nach: das Göttliche in der Natur suchend und sehend, und Wasser und Sonne als Quell des Lebens kunstvoll inszenierend. In der Tat, es ist ein wahrhaft sakrales Ensemble, das sich hier auf den 125 mal 40 Metern des Platanenhains präsentiert. Was wir sehen ist keine Kathedrale, aber ein einmaliger Tempel des Pantheismus.