Als die Moderne aufblitzte: Viele Funktionen unter einem expressiven Dach

Das Ernst Ludwig-Haus war von Beginn an ein faszinierendes Gebäude, aber auch ein widersprüchliches. Während die Südfassade gänzlich der Präsentation vorbehalten war mit dem vielen Gold an Fenster, Türen und Eingangsbogen, mit seinen monumentalen Treppen und den ebenso gewaltigen Kolossalfiguren, folgte die im kompletten Kontrast dazu stehende Nordfassade ganz den Bedürfnissen der Künstler in ihren Ateliers. Da gab es eine lange Reihe schräg stehender Oberlichter, was zu einem sehr expressiven Gebäudeprofil führte, sowie ein riesiges Atelierfenster in der Mitte mit nicht schöner, aber praktischer Anlieferungspforte unten. Es war ein konsequent funktionaler Bau.

Vielleicht hatte das Ernst Ludwig-Haus ursprünglich aber auch einfach zu viele Funktionen in einem zu erfüllen – als Repräsentationsgebäude der Kunst, als Atelierhaus mit Bildhauerwerkstatt, als festlicher Versammlungsort und Treffpunkt, als Verwaltungssitz und Wohnhaus für Künstler. Und wie wir es von den heute bekannten Multifunktionsgeräten im Büro kennen, sind diese immer ein Kompromiss. Sie können nicht alles gleich gut.

Das Ernst Ludwig-Haus: Sternstunde der Architektur mit kleinen Mängeln.

Optimierungen hier und da

Das Ateliergebäude der Künstlerkolonie Darmstadt war zur Schauseite Richtung Süden ein überaus prachtvolles Gebilde, doch dahinter alles andere als perfekt. Das erkannte schon Olbrich. Schon kurz nach der Fertigstellung nahm er Optimierungen vor. Die Bildhauer erhielten 1904 einen eigenen Anbau in der nordöstlichen Ecke des Geländes, der auch für Arbeiten an großformatigen Plastiken perfekt war, in dem sie Krach machen konnten ohne ihre Künstlernachbarn nebenan zu stören, mit großen und hohen Türen, mit Schienen und einem strapazierfähigen Terrazzoboden. Nach dem Auszug der Bildhauer aus dem Hauptgebäude ersetzte Olbrich das Anlieferungstor an der Rückfront des Ernst Ludwig-Hauses mit einer halbrunden Apsis als dekorativeren Abschluss.

Auch in der festlichen Halle in der Mitte des Gebäudes gab es Verbesserungsbedarf. Denn im Gegensatz zu den hell und von viel Licht durchfluteten Arbeitsräumen der Ateliers, war sie durch die vielen Vorhänge und Türen, die sie umschlossen, relativ dunkel, zudem noch mit schweren Malereien an Kopf und Decke verziert. Sie war daher für Ausstellungen, die hier auch stattfinden sollten, nur bedingt geeignet. Mit einem Oberlicht, das nachträglich in das Dach über der Halle angebracht wurde, behob Olbrich den Missstand. Die Malereien wurden entfernt. Der Mittelraum erhielt so die notwendige Helligkeit und farblich neutrale Wände.

Ein funktionstüchtiges Ausstellungsgebäude

Interessant ist, dass von den vielen Funktionen, die dem Ernst Ludwig-Haus ursprünglich zugedacht waren, ausgerechnet diejenige langfristig Erfolg hatte, für die es eigentlich nur zeitweilig vorgesehen war: als Ausstellungsgebäude. Das sollte es eigentlich nur während der Ausstellungszeiten der Künstlerkolonie sein, ansonsten vornehmlich als Arbeitsstätte für die Künstler dienen. 1901, im Jahr der ersten Ausstellung, funktionierten die Künstler von Mai bis Oktober somit ihre Ateliers zu Ausstellungsräumen um, konnten in dieser Zeit aber nicht mehr darin arbeiten. Zur zweiten Ausstellung 1904 wurde vom Sommer bis in den Herbst hinein in den Atelierräumen eine Sonderschau mit Werken der bildenden Kunst präsentiert. Im Dezember 1904 diente das Ernst Ludwig-Haus dann als Austragungsort für eine weitere große Ausstellung, die der „Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein“ darin eröffnete: In zwanzig Ausstellungskabinetten wurden weit mehr als hundert Exponate wie Ölgemälde, Aquarelle, Pastelle und Zeichnungen gezeigt. Hierzu hatte man die mittlere Halle sowie die an die Apsis anschließenden Räume mit nur leichten Veränderungen geschickt zu einem funktionierendem Ausstellungsrundgang umfunktioniert. Ab 1908 verlagerte sich dann das Ausstellungsgeschehen auf der Mathildenhöhe zum großen Ausstellungsneubau am Hochzeitsturm.

Auch das heutige Museum Künstlerkolonie belegt gut, dass sich das ehemalige Multifunktionsgebäude von Joseph Olbrich für Ausstellungen scheinbar am Besten eignet. Es ist ebenfalls Verwaltungssitz wie einst, als Wilhelm Deiters 1901 die Geschäfte der Darmstädter Künstlerkolonie von dort aus lenkte. Im Untergeschoss hat gegenwärtig das Institut Mathildenhöhe Darmstadt mit seinem Leiter Philipp Gutbrod seine Büros. Seine Funktion, die Herrlichkeit der Kunst zu rühmen und zu preisen, erfüllt das Ernst Ludwig-Haus bis heute in grandioser Manier. Es gibt weit und breit keinen schöneren Tempel dafür.

Wegweisender Entwurf: Innovation aus Darmstadt

Während die Prachtfassade nach vorne selbst bei den schärfsten Kritikern Olbrichs Lob erntete, wurde die Gestaltung der Rückfront von den Zeitgenossen dagegen mit viel Spott und Ablehnung kommentiert. Dabei gilt gerade diese heute unter Historikern als besonders wegweisend und als eines der ersten Beispiele funktionalen Bauens in der Architektur: die Oberlichtverglasungen, die klare Gliederung der einzelnen Ateliersegmente, der Mittelbau mit seinem Anlieferungstor direkt neben den Ateliers der beiden Bildhauer Habich und Bosselt – hier bestimmte die Funktion innen über das Aussehen der Fassade und der Seitenfronten außen. Ein Konstruktionsprinzip, das typisch wird für die Moderne.

So zeigt sich auch am Ateliergebäude die Innovationskraft, die in der Darmstädter Künstlerkolonie in vielen Disziplinen zu spüren ist. Überall, wo hier gestaltet wird, blitzt die Moderne auf. „Form follows function“ hieß es nicht nur beim Ernst Ludwig-Haus schon ganz früh, sondern auch bei vielen anderen Gebäuden des Ausstellungsgeländes, deren Fassaden und Fenster sich erst nach dem Entwurf der Innenräume und ihrer Funktionen ergaben – lange bevor der berühmte Satz zum Leitprinzip einer neuen Generation von Architekten der Moderne wurde.

Die Bewerbung als Weltkulturerbe der UNESCO beruht auf diesem Gedanken. Darmstadt ist Jugendstil – aber noch so viel mehr: Die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe bildet als einmalig in sich geschlossenes Raumensemble die Brücke zwischen Jugendstil und den Übergang zur Moderne. Sie schließt in den herausragenden Gebäuden und Kunstwerken ihrer 23 Künstler die Lücke zwischen Jahrhundertwende und Ersten Weltkrieg. Das macht sie so einzigartig in der Welt.

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Literatur und Bildnachweise

Stadt Darmstadt, Kulturverwaltung und Hochbau- und Maschinenamt, Christiane Geelhaar: Mathildenhöhe Darmstadt. 100 Jahre Planen und Bauen für die Stadtkrone 1899-1999. Band 2: Ernst-Ludwig-Haus – vom Atelierhaus zum Museum Künstlerkolonie, S. 10 – 59 (Die historischen Skizzen von Olbrich wurden diesem Band entnommen und abfotogafiert.)

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