Eigentlich ist alles bereits am Eingang gesagt, man muss sich nur die Zeit nehmen, die Inschriften zu lesen: Wasser und Sonne werden hier gleich zu Beginn als Leitmotiv für das vierzig mal achtzig Meter große Gesamtkunstwerk eingeführt. Beide sind der Quell allen Lebens und aller Energie auf der Erde, ohne sie wären wir und alles lebende Wesen auf diesem Planeten nichts. Diese zwei Themen ziehen sich wie ein Leitfaden über den Kunst-Parcours, den der Bildhauer Bernhard Hoetger im Platanenhain auf der Mathildenhöhe installiert hat. Nach den Wasserspielen im Juni widmet sich 23 Quer nun dem zentralen Motiv der Sonne, und wie sie den gestalterischen Bogen im Süden des Platanenhains schließt. Denn die großen Pflanzkübel dort sind weit mehr als nur dekoratives Beiwerk. Sie haben eine bedeutende Rolle im Gesamtkonzept des Hains.
Doch zurück zum Anfang, zum Eingang mit seinen massiven Pfeilern und den beiden fauchenden Raubkatzen oben. Bei dem Tier auf dem rechten, dem östlichen Pfeiler, handelt es sich um einen Puma. Wegen seines hellgrauen Fells wird er auch Silberlöwe genannt, und so kommt es, dass die Plastik den Namen „Silberlöwe, den Tag tragend“ bekommen hat. Dieser erscheint hier in der Gestalt eines Kindes, das sich auf dem Rücken des wilden Tieres den ersten Strahlen des Tages entgegenstreckt. In der chinesischen Mythologie wird der Silberlöwe in Verbindung mit der Sonne gebracht. Auf dem Pfeiler darunter führt ein „Sonnengesang“ in vier Strophen feierlich ein in das Leitmotiv.
DU ERSCHEINST SCHÖN
IM HORIZONTE DES HIMMELS
DU LEBENDE SONNE
DIE ZUERST LEBTE
DU GEHST AUF
IM ÖSTLICHEN HORIZONT
UND FÜLLST DIE ERDE
MIT DEINER SCHÖNHEIT
DU BIST SCHÖN
UND GROSS UND FUNKELND
UND HOCH ÜBER DER ERDE
DEINE STRAHLEN
UMARMEN DIE LÄNDER
SOVIELE DU GESCHAFFEN HAST
- Großer Sonnenhymnus des Echnaton (1372-1354 v. Chr.)
Dermaßen ins Thema Sonne eingeführt, fragt sich der aufmerksame Betrachter nun unwillkürlich, wo dieses Leitmotiv im Hain nun weitergespielt wird. Dem Wasser ist gegenüber des Eingangs eine zentrale Brunnengruppe gewidmet sowie noch eine ganze Schar an Frauenskulpturen, die das Wasser in Krügen symbolisch in die Welt tragen. Wenn man die drei Damen der Brunnengruppe mitzählt und die sieben einzeln stehenden Figuren dazu, sind es insgesamt zehn Krugträgerinnen. Zwei sind heute – um einer Treppe ins gegenüberliegende Alice-Krankenhaus Platz zu machen – ganz aus dem Kunstwerk heraus, an das östliche Ende des Hains gerückt. Als sie jedoch alle noch in ihrer vorgesehenen Rundnische in Reih und Glied standen, spannten sie eine lange Reihe von der ersten Figur am Relief Frühling bis zur letzten, siebten, am anderen Ende, dem Relief Sommer. Sie trugen nicht nur ihre Krüge, sondern damit auch konzeptionell das Thema Wasser die gesamte nördliche Länge des Kunstwerks entlang.

Doch wo findet sich nur das Thema Sonne noch wieder? Es kann doch nicht sein, dass ein Bernhard Hoetger, der alles auf dem Platanenhain ungemein stimmig komponiert hat, dieses Thema nach der gewaltigen Einführung am Eingang einfach so fallen lässt? Abgesehen von der Brunnenwand mit ägyptischen Reliefs aus der Armanazeit, in der man der Sonne huldigte, findet sich an der ganz dem Wasser geweihten Nordwand nichts.
Hier hilft ein wenig der Blick auf das künstlerische Schaffen Hoetgers zur Entstehungszeit des Platanenhains zwischen 1912 und 1914. Zu dieser Zeit hatte der Bildhauer gerade durch seine „Licht- und Schattenseiten“ des Lebens für Aufsehen gesorgt, einer Serie von 15 keramischen Skulpturen in der Majolika-Technik, die er als Installation im Raum angeordnet hatte: auf der einen Seite eine Reihe von sieben Licht-Figuren mit positiven Konnotationen (wie Liebe, Wahrheit, Milde oder Güte), auf der anderen eine Reihe von sieben Schattenfiguren mit eher negativer Assoziation (wie Habgier, Wut, Hass oder Geiz). Zwischen den beiden Reihen konnte man entlang schreiten, Paarbezüge von links nach rechts herstellen, und gelangte beim Durchschreiten zu der weiblichen Hauptfigur am Kopf, die den Sieg darstellte, und unter Berücksichtigung der Perspektivwirkung größer gestaltet war als die anderen.
Die komplette Serie seiner vielfach ausgezeichneten Arbeit wurde auch während der letzten Ausstellung der Künstlerkolonie in Darmstadt 1914 als bedeutendes Werk Hoetgers gezeigt, für viele Jahrzehnte das letzemal als geschlossene Gruppe. Sie gilt als ein wichtiger Vorläufer für seine Gestaltung des Platanenhains (Philipp Gutbrod, 2013), da sie sich, wenn auch im kleineren Maßstab, bereits mit der Beziehung von Skulpturen zueinander beschäftigte. Aber ist es nicht sogar denkbar, dass Hoetger das Gestaltungsprinzip seiner Licht- und Schattenseiten noch konsequenter im Platanenhain umgesetzt hat? Auf Spurensuche nach ein bißchen mehr Sonne im Kunstwerk könnte dies vielleicht ein Ansatz sein.
Man drehe den Grundriss des Platanenhains nur mal ein wenig um, betrachte ihn in seiner Längsausrichtung von Ost (unten) nach West (oben). Links ist der Eingang mit seinen beiden Portalpfeilern zu sehen. Dann haben wir rechts an der Nordwand die drei Trägerinnen der Wasserkrüge in der Brunnengruppe und die sieben in den Einzelnischen, zehn an der Zahl. Und links haben wir? Genau, zehn von Löwen getragene, steinerne Pflanzkübel entlang der gesamten Südwand.
Zehn Figuren links, zehn Figuren rechts. Das kann doch kein Zufall sein! In der Abbildung links sind die Löwenvasen einmal zur Veranschaulichung – und zwar wie sie ursprünglich gestanden haben – eingezeichnet. Die Informationen hat 23 Quer aus der Dissertation des Kunstgeschichtlers Dieter Tino Wehner, und dieser wiederum hat seine Kenntnis aus dem originalen Ausstellungskatalog von 1914. Für Wehner sind die bauchigen Pflanzgefäße alles andere als dekoratives Beiwerk ohne Beitrag zum Gesamtkunstwerk wie der Zeitzeuge Hans Hildebrandt 1915 befand – und eben deswegen überhaupt nicht einzeichnete in seinen Plan.
Für Wehner macht die Gestaltung der Südseite konzeptionell dagegen sehr viel Sinn: zehn Wasserträgerinnen, zehn Pflanzkübel und auch die gleiche Anzahl von Löwenköpfen auf jeder Seite – nämlich genau zwanzig, wenn man die sechs Wächterlöwen der Brunnengruppe hinzu addiert zu den vierzehn in den Sockeln der sieben Frauen. Wir finden eine sehr achsensymmetrische Gestaltung für die Süd- und die Nordseite des Platanenhains.
Apropos Sonne. Wozu sind die Pflanzen in den Gefäßen anderes da, als das Sonnenlicht einzufangen? Sonnenfänger sollte man die gewaltigen Kübel eigentlich nennen, denn aus genau diesem Grund stehen sie hier, genau gegenüber den Wasserfängern, den Krügen in den Händen der zehn Frauen, die sich die Nordwand entlang reihen. Früher waren alle zehn Steinvasen eingelassen in die südliche Umfassungsmauer, von der der Platanenhain bis auf den Eingang komplett umschlossen war. Heute ist das nur bei den fünf östlichen der Fall, die anderen fünf im Westen stehen frei im Raum des an dieser Stelle nun offenen Platanenhains.
Gestalterisch schließt sich mit der Sonnenreihe, wenn man die Pflanzkübel denn als solche begreift, das Skulpturenprogramm des Platanenhains zu einem auch inhaltlich geschlossenen Parcour. Sie schließt die lange Strecke zwischen den beiden Reliefs Schlaf und Auferstehung im Süden, die so seltsam ungefüllt scheint, wenn man den Vasen nur reine Dekorationszwecke zuspricht wie Hildebrandt.
Auch die Löwen selbst sind nicht zufällig gewählt und positioniert wie Wehner ausführt. Der eine des Duos blickt jeweils Richtung Westen, zur untergehenden Sonne, zum Relief des Schlafs, der andere entgegengesetzt nach Osten, zur aufgehenden Sonne, zum Morgen, zum Relief der Auferstehung. Damit schließen die zehn Löwenvasen den Kreis. Zudem ähneln sie mit ihrer Haltung Rücken an Rücken sehr an ägyptische Darstellungen aus der 21. Dynastie, in der zwei Löwen zwischen sich die aufgehende Sonne trugen.
Vielleicht rührt auch daher die bauchige, Halbkugelform der Pflanzgefäße, die einem Sonnenball – einem halbierten – nicht unähnlich sind?
Hoetger hat seinen Platanenhain auf zwei Bewegungen durch den Raum konzipiert. Einmal als Parcour, als Rundgang entlang der vier Reliefs und der Wasser- und Sonnenlinien, die sie im Norden und Süden jeweils verbinden. Zu erkunden über den Eingang mit seinen Portalpfeilern. Er ist aber auch als linearer Weg durch den Raum gestaltet. Denn wer den Platanenhain vom Hochzeitsturm aus kommend betritt, der schreitet durch die Sonnenreihe links und die Wasserreihe rechts hindurch, wie bei den Licht- und Schattenseiten, nur das hier alles noch ein wenig monumentaler ist, der Abstand zwischen den beiden Reihen links und rechts fast vierzig Meter beträgt. Am Ende des langen Weges steht nicht eine Allegorie des Siegs, sondern das Denkmal an die jung, kurz nach der Geburt verstorbenen Paula Modersohn-Becker und ihrem Kind.
Ein Monument, das das zentrale Thema des Platanenhains, das Entstehen und Vergehen, den ewigen Wandel und die ständige Erneuerung, auf einzigartige Weise verdichtet. Hier siegt aber trotz aller Vergänglichkeit dennoch jemand – das Leben.
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Literatur (chronologisch)
Hildebrandt, Hans: Der Platanenhain. Ein Monumentalwerk Berhard Hoetger’s, Verlag Paul Cassirer, Berlin, 1915
Wehner, Dieter Tino: Bernhard Hoetger – Das Bildwerk 1905 bis 1914 und das Gesamtkunstwerk Platanenhain, Dissertation, Zürich, 1993
Mathildenhöhe Darmstadt, Ralf Beil und Philipp Gutbrod (Hrsg.): Bernhard Hoetger. Der Platanenhain. Ein Gesamtkunstwerk auf der Mathildenhöhe Darmstadt, 26. Mai bis 25. August 2013, Ausstellungskatalog
Landesamt für Denkmalpflege Hessen: Bernhard Hoetger auf der Mathildenhöhe Darmstadt. Zur Restaurierung und Konservierung des Gesamtkunstwerks Platanenhain, Arbeitshefte des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen, Nr. 31, Wiesbaden, 2018