
Es war ganz großes Kino, was die Stadt Darmstadt mit dem Welterbefest Mathildenhöhe auf die Beine gestellt hat. Richtig begeistert war 23 Quer aber auch von einem ganz kleinen vor dem Eingang zum Hochzeitsturm: dem „Hoetger Kino“. Ein weißer Pavillon von drei mal drei Metern, darin ein paar Stühle und ein Bildschirm. Zu sehen gab es eine Filmpremiere der besonderen Art: die „Hoetger Geheimnisse erzählt von Dr. Tino Wehner“. Ein kleines Filmjuwel, produziert vom Förderkreis Hochzeitsturm, das mit vielen Geschichten und Details zur Entstehung der Skulpturen im Platanenhain zu überraschen weiß.
Das Welterbefest Mathildenhöhe trumpfte 2024 mit jeder Menge Superlativen auf: Zwei Tage und zwei Nächte lang feierte Darmstadt die erste Ausstellung nach 12 Jahren im prächtig sanierten Ausstellungsgebäude von 1908. Rund 10.000 Besucher und Besucherinnen zog es allein am Eröffnungsabend auf das weitläufige UNESCO-Welterbegelände. Selbst die Sonne strahlte die ganze Zeit unablässig mit, gab der festlichen Eröffnung in den frühen Abendstunden des 20. Septembers seinen warmen, goldenen Glanz. Sonnig war das Welterbefest. Heiter und leicht. So hat man auch Olbrichs Kunst einst beschrieben. Wie passend, wie stimmig. Genauso hätte der berühmte Architekt es sich wahrscheinlich gewünscht, das Fest zur Wiedereröffnung seines Ausstellungsgebäudes. Der Schlussapplaus geht an die Teams von Darmstadt Marketing, an das UNESCO-Welterbebüro und selbstverständlich und zuvorderst an das Institut Mathildenhöhe Darmstadt um Direktor Philipp Gutbrod, das zur Premiere mit der Ausstellung „4-3-2-1 Darmstadt“ den passenden Countdown zur großen Feier der städtischen Kunst und Kultur lieferte.
Insider-Wissen: Die Ziehtochter Bernhard Hoetgers war Modell und Zeitzeugin
Bernhard Hoetger hatte wohl einen sehr explosiven Charakter. Er war nicht rechtzeitig fertig geworden in Florenz, wo er vom 1. November 1912 bis zum 31. März 1913 in einem Palast eines Bildhauerfreundes zur Miete wohnte und an seinen Figuren für den Platanenhain arbeitete. Dann wurde auch noch sein Mietvertrag trotz aller Bitten und Versuche nicht verlängert. Voller Wut hat der „Choleriker par excellence“, so Wehner, alles, was er bisher für Darmstadt vorgearbeitet hatte, zerschlagen und zertrümmert. Zwei der sieben Figuren standen schon verpackt im Bahnhof und sind so dem unbändigen Zorn des Künstlers entkommen. Eine der „Überlebenden“ befindet sich heute in Bremen in der berühmten Böttcherstraße, die andere in Darmstadt. Nicht im Platanenhain, sondern unterhalb, am Fuße der Mathildenhöhe, am Anfang des Nikolaiwegs, in einer nördlichen Nische am Paula-Ludwig-Platz. „Die Badende“ zeigt uns heute, wie die Figuren ursprünglich einmal aussehen sollten: eine nackte Schönheit, nur das Bein leicht mit einem Tuch verhüllt.
Seine Ziehtochter Olga Breling hat ihm damals Modell gestanden. Fünfzehn Jahre war sie erst alt, aber als Tochter des Hofmalers von Märchenkönig Ludwig II. vertraut mit der Aufgabe. Diese Olga ist Wehners wichtigste Kronzeugin. Sie wurde sehr alt (1896 – 1995) und so konnte sie ihm in den 90er Jahren, selbst über neunzig Jahre alt, viele Dingen berichten, die man in keinem Geschichtsbuch findet. Von diesen Geheimnissen erzählt er im Film und von weiteren Spurensuchen, die er bei seinem wissenschaftlichen Recherchen zum Platanenhain und Bernhard Hoetger unternommen hat.
Auf die Schnelle Ersatz gefunden: Die Frauen der Stifter im Portrait
So hat er etwa herausgefunden, dass Hoetger für die dann schließlich im Platanenhain zu sehenden Krugträgerinnen die Frauen und Töchter der Stifter als Modelle genommen hatte. Das beruhte einerseits auf ganz praktischen Gründen, denn der Bildhauer brauchte schnell Ersatz für seine eigenhändig zertrümmerte Kunst, und griff auf bereits bestehende Frauenportraits aus einem anderen Projekt zurück. Anderseits konnte er den Stiftern des Monumentalkunstwerks damit besondere Ehre erweisen, indem er den wichtigen Frauen ihres Lebens ein Denkmal für die Ewigkeit setzte. So sieht man in den drei Figuren der Brunnengruppe beispielsweise in der Mitte die Ehefrau sowie links und rechts die beiden Töchter des Darmstädter Kabinettschefs Gustav von Römheld. Es sind weiterhin Damen der (Wuppertal-)Elberfelder sowie der Frankfurter Gesellschaft abgebildet, deren Männer Hoetger auf der Rückseite eines Pfeilers zum Platanenhain als Stifter namentlich aufführt. Diese Society-Ladys konnten natürlich nicht mehr nackt dargestellt werden, wie ursprünglich eigentlich geplant. Heute umhüllt in Darmstadt jede Krugträgerin ein sanft fallendes Gewand.
Hoetgers Glück war, dass die 4. Ausstellung auf der Mathildenhöhe um ein Jahr auf 1914 verschoben wurde, so konnte er doch noch pünktlich alle seine Werke für den Platanenhain liefern.


Das kleine Kino vor dem Hochzeitsturm steht nicht mehr. Aber dafür alles im Internet, als Youtube-Video von 13 Minuten jederzeit anzuschauen, was 23 Quer hiermit ausdrücklich empfiehlt. Es langweilt keine Sekunde, auch weil Wehner uns sehr lebendig teilhaben lässt an seiner bisherigen Detektivarbeit. Für den Schnitt des Films ist kein geringerer zuständig als der 1. Vorsitzende des Förderkreis Hochzeitsturm, Armin Riegel, ein Profi seines Fachs.
https://www.youtube.com/embed/QvzFODCaop0?si=G09zyUBWfTZYEQ8F
Es gibt kaum jemanden, der mehr über Bernhard Hoetger und den Platanenhain wissen dürfte als der Frankfurter Kunstwissenschaftler und Dozent Dr. Tino Wehner. Er hat vor vielen Jahren seine Doktorarbeit über den Bildhauer geschrieben, ein Grundlagenwerk, auf das sich Forscher und Publizisten (auch 23 Quer) gerne beziehen. Zudem gilt er als Kenner der Lebensgeschichte von Olga Bering verheiratete Bontjes van Beek, der Ziehtochter des Ehepaars Hoetger, die sich 1919 von beiden trennte.
- Bernhard Hoetger – Das Bildwerk 1905 bis 1914 und das Gesamtkunstwerk Platanenhain zu Darmstadt, Alfter 1994
- Olga Bontjes van Beek und Bernhard Hoetger, in: Maria Ancykowski; Olga Bontjes van Beek – Künstlerin und Künstlermodell, Bremen 1996
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