Der langjährige Leiter des Darmstädter Stadtarchivs hat schon aus beruflichen Gründen den einen oder anderen Ortstermin auf der Mathildenhöhe. Doch sowohl privat als auch sportlich gibt es überraschende Schnittmengen wie ein Gespräch mit Peter Engels zeigt. Mit ihm, dem Vorsitzenden des Historischen Vereins für Hessen und dem Herausgeber des Darmstädter Stadtlexikons, setzt 23 Quer seine Rubrik „Meine Mathildenhöhe“ fort. Hier erzählen Menschen, die die Mathildenhöhe prägen, begleiten und für sie an den unterschiedlichsten Stellen wirken, ihre ganz persönlichen Geschichten zu diesem ganz besonderen Stück Darmstadt. Gemeinsam mit ihnen flanieren wir über den Musenhügel. Drei Orte, drei Stopps, drei Geschichten. Los geht’s!
Stopp 1: Am Ende des Platanenhains auf der Terrasse
Der zartblaue Winterhimmel hat es gut gemeint: Es ist Mittagszeit und wir treffen uns zu einem „Outdoor-Coffee“ der traditionellen Art im weiten Platanenhain: Der frisch aufgebrühte Kaffee dampft aus der Thermoskanne, Milch und Zucker sind verrührt und nichts steht einem persönlichen Gespräch im Lockdown-Modus entgegen. Wo könnte man das auch besser zelebrieren als zwischen diesen altehrwürdigen Baumreihen?
Ein wenig nachdenken muss Peter Engels, fragt man ihn nach seiner ersten Begegnung mit der Mathildenhöhe. Er war noch ein kleiner Junge, als er im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren mit einer Tante von Worfelden aus mehrfach nach Darmstadt kam und dem Landesmuseum und danach wohl auch der Stadtkrone einen Besuch abstattete. „So erzählte es jedenfalls meine Tante – nur, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann!“
Es ist ja auch gut fünfzig Jahre her mittlerweile. Ganz frisch in Erinnerung ist noch ein Erlebnis, das er als junger Vater hier hatte. In seinen ersten Jahren in Darmstadt, als er 1993 nach Stationen in Münster, Koblenz und Marburg als promovierter Historiker die Leitung des Stadtarchivs von Darmstadt übernahm, lebte er mit seiner Familie anfangs in der Gutenbergstraße. Woran er sich gut erinnern kann, ist an Spaziergänge, die ihn damals über die Mathildenhöhe und durch den Platanenhain führten, auf dem Weg zum Biergarten in der Dieburgerstraße, dem beliebten Ausflugsziel bis heute. Mathildenhöhe und Brauereien, das war ja schon immer ein geografisch nah beieinander liegendes Doppel in dieser nordöstlichen Ecke der Stadt.
Mit Kind und Kegel stand Peter Engels oft vor dem großen Denkmal der „Mutter mit Kind“, das die Malerin Paula Modersohn-Becker mit ihrem Neugeborenen zeigt, und das er bereits aus Worpswede kannte. Diese starb kurz nach der Geburt ihres Kindes, und eigentlich ist das Kunstwerk von Bernhard Hoetger ihrem Grabmal nachgebildet. Doch auf der Darmstädter Mathildenhöhe, eingebunden in das Monumentalkunstwerk des Platanenhains und seinem Narrativ vom ewigen Werden und Vergehen, ist es eine Hymne auf das Leben. Ganz lebensecht ist denn auch die Erinnerung, die Engels an dieser Stelle hat: „Hier haben wir unsere Tochter vom Schnuller entwöhnt.“
Und zwar hinter dem Denkmal, da, wo die Terrasse des Platanenhains endet und einen herrlichen Ausblick auf das tiefer liegende Darmstadt bietet. Da beförderte Engels Kleine das schnuckelige Plastikteil kurzerhand ins Grün. Ein Abschied für immer – und eine Anekdote, die typisch ist für diesen Teil der Mathildenhöhe. Denn neben all der kunsthistorischen Kostbarkeit ist der Platanenhain auch einer der lebendigsten Orte auf dem berühmten Hügel, bis heute geschätzt von Familien und Kindern, von Boulespielern und Spaziergängern. Weiter geht’s!
Stopp 2: Mit Blick auf Olbrichs Hochzeitsturm
Als Stadtarchivar ist man eine der ersten Adressen, wenn es um Originaldokumente aus der Zeit der Künstlerkolonie geht. Doch meistens muss Peter Engels Anfragen enttäuschen. Zu viel wurde in der Brandnacht am 11. September 1944 zerstört: „Die komplette Kabinettsregistratur ist damals verbrannt.“ Und damit auch sämtliche Korrespondenzen, die Großherzog Ernst Ludwig als Staatsoberhaupt geführt hat. Das private Archiv des Großherzogs hat sich zum Glück erhalten, aus dem das ein oder andere Wissen transferiert werden kann, aber wesentliche Dokumente fehlen, insbesondere die offizieller Natur: So sind die Originalakten vom Bebauungsplan der Mathildenhöhe, 1897 vom Architekten Karl Hofmann erstellt, beispielsweise nicht mehr da, nur noch über Zweitquellen nachweisbar. Das gilt für so gut wie alle Gebäude des Villenviertels, inklusive der berühmten Bauten der Künstlerkolonie.

Auch die Korrespondenz von Joseph Maria Olbrich, insbesondere das angespannte Verhältnis zum Zeitgenossen August Buxbaum, dem Darmstädter Stadtbauinspektor und -baurat von 1906 bis 1930, ist anhand von Originaldokumenten kaum noch nachzuvollziehen. In einem Artikel, den Peter Engels zu dem großen Jubiläumsband anlässlich des 100. Todestags von Olbrich in 2008 beigetragen hat, geht er der angeblichen „Feindschaft“ zwischen den beiden nach. Buxbaum soll sich nach langläufiger Meinung zurückgesetzt gefühlt haben, weil sich nicht sein Entwurf für den Turm auf der Mathildenhöhe durchgesetzt habe, sondern der „Hochzeitsturm“ von Olbrich. Rückblickend hat sich Buxbaum wohl nicht sonderlich freundlich über Olbrichs architektonische Qualitäten geäußert. Zu Lebzeiten gibt es laut Engels dafür aber keine Belege.
Jedoch eine Postkarte von Olbrich, die fast schon das Gegenteil zeigt. Olbrich hatte gerade eine neue Postkartenserie seiner zauberhaft schönen Aquarelle, dieses Mal vom neuen Hochzeitsturm und dem Ausstellungsgebäude, erhalten. Persönlich und mit handgeschriebenen Zeilen, „Verehrter Herr Inspektor“, übersendet er Buxbaum am 26. Mai 1908 „hiermit ein Exemplar“.
Der Stadtarchivar Peter Engels hat sich mittlerweile an diese spezielle Situation Darmstadts gewöhnt, dass einfach bestimmte Phasen der Darmstädter Geschichte durch die Brandnacht unwiderruflich verloren sind. Auch von der privaten Korrespondenz zwischen einzelnen Künstlerkolonisten ist im Darmstädter Archiv so gut wie nichts erhalten, was auch daran liegen mag, dass von der Gründergeneration nur Olbrich und Habich in Darmstadt blieben. Olbrich starb früh, seine Witwe verheiratete sich 1914 wieder neu und verkaufte das Haus 1940. Das Wohnhaus Ludwig Habichs im Paulusviertel wurde in der Brandnacht zerstört und mit ihm der Nachlass des Künstlers. Zusammen mit dem jungen Architekten Peter Weyrauch konnte er einige Kunstwerke retten, die Weyrauch später in einer Monographie über Habich veröffentlichte.
Alles, was sonst noch an privater Korrespondenz der 23 Künstler übrig blieb, verstreute sich in alle Winde, verschollen oder verborgen in vielen Nachlässen außerhalb Darmstadts. „Man müsste es mühsam wieder zusammen tragen; seltsam eigentlich, dass noch nie jemand auf die Idee gekommen ist“, meinte die Zeitschrift „ZEIT Geschichte“ in einer Sonderausgabe zur Reformbewegung, in der die Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe vorgestellt wurde. „So bleibt das unscharfe Bild von eigentümlich lebensfernen Lebensreformern.“
Stopp 3: Ganz oben vor der Baustelle
Apropos Bewegung: Das Thema Fitness und Gesundheit findet sich nicht nur unter den Reformbewegten der Jahrhundertwende. Die Mathildenhöhe hat sportlich auch in der Gegenwart Einiges zu bieten: Sie war mehrfach Teil des Parcours für den „Darmstadt Marathon“, als dieser, wie etwa 2009, über die rund 42 Kilometer lange Volldistanz entlang der historischen Villen, hoch hinauf zum Vorplatz der Russischen Kapelle und die Ollenhauer Promenade wieder hinunter zur Stadt führte.
Diesen anspruchsvollen Marathonkurs durch Darmstadt ist auch Peter Engels bereits gelaufen, hat hier sogar seine persönliche Bestzeit erzielt. Denn als Ausgleich zur Archiv- und Schreibtischarbeit betreibt er seit vielen Jahren den extremen Ausdauersport. Insgesamt 7 Marathons und etwa 20 Halbmarathons im Wettkampf, dazu noch einige im Training, hat er bisher absolviert. Dieses Jahr will er wieder angreifen, vielleicht den Frankfurt Marathon wie so oft schon meistern. Im Moment steht läuferspezifische Gymnastik auf dem Programm, digital wird momentan geturnt, per Zoom-Konferenz, die er jeden Dienstag von 19 bis 20:30 Uhr für die Seniorensportgruppe des Darmstädter SV 98 organisiert.
Schon seit mehr als zwanzig Jahren in der Nähe des Botanischen Gartens Zuhause führt ihn nur noch selten ein privater Spaziergang wie früher auf die Mathildenhöhe. Zum Laufen und Langstreckentraining geht es heute eher in die Wälder um die Lichtwiese. Mit seiner mittlerweile 26 Jahre alten Tochter war er erst kürzlich an Weihnachten da, um sich den Baufortschritt an der Stadtkrone anzuschauen. Als Vorstandsmitglied im Verein der Freunde der Mathildenhöhe muss man schließlich immer auf „dem Laufenden“ sein, um im Jargon zu bleiben…
Zum Gespräch mit 23 Quer hat der fitte Historiker den Hügel über der Stadt mit dem Rad erklommen, denn viel Zeit hat Peter Engels momentan nicht. Er muss schnell wieder Platz nehmen in seinem Büro im Haus der Geschichte am Karolinenplatz. Der zweite Band von „Ein Jahrhundert Darmstadt“ soll bald fertig werden. Schon jetzt weist er mit sportlichen 700, statt geplanter 400 Seiten, auf sehr, sehr viel Arbeit hin. Der im Februar 2020 erschienene Band 1 widmete sich der Kunst, Kultur und Kirche in Darmstadt. In Band 2 geht es nun um die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie eine Darstellung der Darmstädter Stadtteile- und viertel.
Mal wieder ein ausgesprochenes Marathonprojekt für den Marathonmann.
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Nachschlag
„Wider den Mythos des in Ungnade gefallenen Künstlers“ titelte Engels in seinem Aufsatz, der „Olbrichs erfolgreiche Schaffensjahre zwischen Darmstadt und Düsseldorf“ beschreibt. Spätestens im Sommer 1908 hatte sich Olbrich, der durchaus Phasen mit Umzugswillen hatte, für eine Zukunft in Darmstadt entschieden. Dazu trug sicherlich bei, dass er einen erhofften Direktorenposten an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule nicht erhielt. Wenige Wochen vor seinem Tod, bei einem Besichtigungstermin im neu gebauten Hochzeitsturm, scheinen seine Absichten klar:
„Ich denke nicht daran in Preußen oder sonst wo ein Staatsamt anzunehmen; ich, der Niemanden über sich haben kann, muss frei schaffen. Ich bleibe in Darmstadt!“
Aber auch die Aussicht auf eine Zukunft als Familienvater – sein erstes Kind, Tochter Marianne, wurde nur drei Wochen vor seinem überraschenden Tod geboren -, ließ ihm sein trautes Heim in Darmstadt mit großer Vorfreude leuchten: „Ich freue mich auf unser Häusel und die Fülle von Glück“ sind seine letzten geschriebenen Zeilen vom 31. Juli 1908 an seine Frau Claire. Umso tragischer sein Ende: Nur eine Woche später, am Samstag, den 8. August 1908, um halb zwei Uhr nachmittags, verstarb Olbrich im Alter von nur 40 Jahren an Leukämie.
Auch die Erkenntnisse über Olbrichs letzte Jahre in Darmstadt hat Peter Engels nicht aus offiziellen Unterlagen des Darmstädter Stadtarchivs gewinnen können. Die beiden – wohl letzten überlieferten Zitate Olbrichs – stammen aus einem Artikel des Darmstädter Tagblatts vom 10.8.1908 und von einer Postkarte aus dem Privatbesitz der Olbrich-Familie, die im Original nicht mehr zur Verfügung steht.
Literatur
Peter Engels: Wider den Mythos des in Ungnade gefallenen Künstlers. Olbrichs erfolgreiche Schaffensjahre zwischen Darmstadt und Düsseldorf. In: Ralf Beil / Regina Stephan: Joseph Maria Olbrich. 1867 – 1908, Architekt und Gestalter der Frühen Moderne, Hatje Cantz, Darmstadt, 2008, S. 349 ff
Peter Engels, Klaus-Dieter Grunwald, Peter Benz (Hrsg.): Ein Jahrhundert Darmstadt. Von der Residenzstadt zur Wissenschaftsstadt, 1914 bis 2019, Band 1: Kunst, Kultur und Kirche, Justus von Liebig Verlag, Darmstadt, 2020
Andreas Molitor/ Michael Hudler (Fotos): Mathildenhöhe. Schön bis in den letzten Winkel In: ZEIT Geschichte: Anders Leben. Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900, Nr. 2, 2013, S. 38-44.