Déjà-vu oder Hoetgers tierische Doppelgänger

In Darmstadt zieren sie oben die massiven Eingangspfeiler zum Platanenhain, doch die beiden fauchenden Raubkatzen aus Bronze sind keineswegs Unikate. Ihr Schöpfer Bernhard Hoetger hat sie gleich mehrfach eingesetzt. Doppelgänger von ihnen findet man sowohl in Worpswede als auch in Bremen.

Denn den gebürtigen Dortmunder zog es in den Norden. Darmstadt war 1911 nur eine kurze Zwischenstation für den Bildhauer, noch dazu unterbrochen von einem zehnmonatigen Aufenthalt in Florenz und einem ersten Umzug nach Fischerhude in 1913. Nach der Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt von 1914 verabschiedete sich Hoetger endgültig von Südhessen, um zu einem der bekanntesten Vertreter des norddeutschen Expressionismus in Bildhauerei und Architektur zu werden. Wer heute seinen Spuren folgt, hat als Darmstädter nicht selten das Gefühl eines Déjà-vus. Insbesondere den beiden Bronzen mit den sich streckenden Knaben auf dem Rücken kann man auf dieser Reise gleich mehrfach begegnen.

Ganz privat: Versteckt in einem prächtigen Park

Im niedersächsischen Worpswede etwa: In der berühmten Künstlerkolonie hatte sich Hoetger 1914 niedergelassen und 15 Jahre lang gelebt, bevor er 1929 nach Bremen zog . Ganz in der Nähe des Barkenhoff, Anfang des 20. Jahrhunderts Treffpunkt der kreativen Avantgarde, errichtete Hoetger sein erstes privates Wohnhaus. Dieses brannte 1923 nahezu komplett ab, kurz nachdem er es verkauft und 1922 ein zweites, neues Zuhause im Ort bezogen hatte. Doch die Gartenanlagen mit den Skulpturen blieben vom Brunnenhof – dem späteren Diedrichshof – glücklicherweise erhalten. Die wieder aufgebaute und denkmalgeschützte Villa auf dem Weyerberg ist heute im Privatbesitz und damit nicht Teil der öffentlich zugänglichen Sehenswürdigkeiten des Künstlerdorfs. Sie ist Tagungshotel und bietet ein exklusives Ambiente für besondere Anlässe. Aber dennoch ist zu mehreren Terminen im Jahr ein Blick hinter die Kulissen und in den Hoetger-Garten im Diedrichshof möglich.

Und hier, in einem traumhaft schön gestalteten Parkgelände hinter dem prächtigen Landsitz, erkennen Mathildenhöhen-Kenner die alten Bekannten doch gleich wieder: den Panther und den Silberlöwen aus Bronze.

Die gleiche Haltung, das gleiche Motiv wie am Darmstädter Platanenhain, nur dass sie in Worpswede nicht in luftiger Höhe auf breiten Granitpfeilern thronen, sondern auf flache Backsteinmäuerchen mitten im weitläufigen Garten aufgesetzt sind. Auch hier handelt es sich um eine Portalsituation, da die Raubkatzen zwei unterschiedliche Bereiche der Parkanlage voneinander trennen – einen mit niedrigen Buchsbaumhecken symmetrisch gestalteten Gartenbereich direkt hinter der rückwärtigen Terrasse des Hauptgebäudes und eine tiefer gelegene offene Rasenfläche, in deren Mitte ein Teich eingelassen ist. Die beiden Bronzefiguren sind ganz außen links und rechts des etwa 40 Meter breiten Geländes positioniert und damit viel weiter voneinander entfernt als in Darmstadt. Panther und Silberlöwe in der Ecke bilden den Rahmen und markieren zugleich zu beiden Seiten den Durchgang von einem Bereich in den anderen. In Worpswede sind sie Ausgang und Eingang zugleich, führen aus dem schattigen oberen Park hinaus und hinein in den lichtdurchfluteten hinteren Garten.

Ganz öffentlich: Blickfang einer Kunst- und Einkaufmeile

Doch damit nicht genug. In Bremen begegnen wir unseren Raubkatzen zum dritten Mal – und zwar in der berühmten Verbindungsgasse zwischen Rathaus und Weser: der Böttcherstraße. An diesem städtebaulichen Großprojekt des Kaffee-Fabrikanten Ludwig Roselius war Hoetger in vielfacher Weise beteiligt. 1926/27 wurde dort nach seinen Entwürfen das Paula Becker-Modersohn Haus errichtet, das weltweit erste Museum für eine Malerin. 1930/31 führte er am anderen Ende der langen Passage den Bau und die Ausstattung vom Haus Atlantis aus, einem Meisterbau des Expressionismus, heute Sitz des Radisson Blu Hotel. Genau gegenüber in der Böttcherstraße hat Hoetger seinem Panther und seinem Silberlöwen vom Platanenhain einen neuen Sitzplatz gegönnt – heute ein beliebtes Fotomotiv der „heimlichen Hauptstraße“ und Touristenattraktion Bremens.

Positioniert in einer hinten geschlossenen, halbrunden Backsteinnische kommen sich die beiden hier recht nah, nur wenige Meter Abstand trennen sie voneinander. Etwa in Augenhöhe fauchen sie die Passanten an: der „Panther, die Nacht tragend“ links, wie der „Silberlöwe, den Tag tragend“ rechts. Wie in Darmstadt so auch in Bremen streckt der Knabe der „Nacht“ die Arme nach Westen Richtung Sonnenuntergang und der „Tag“ nach Osten Richtung Sonnenaufgang. Unter den Raubkatzen läuft ein Steinsockel, der die Figuren für den Betrachter erkennbar als „Nacht“ und „Tag“ identifiziert. Auch der Name ihres Schöpfers ist hier eingemeißelt: Bernhard Hoetger.

Die beiden Raubtiere sind Teil einer Vielzahl unterschiedlicher Skulpturen und Reliefs mit denen der Künstler die Fassaden, Treppenhäuser und Innenhöfe der markanten Bremer Backsteinbauten ausgestattet hat. Eine Übersicht der Kunstsammlungen Böttcherstraße zählt insgesamt 28 Figuren. 8 gruppieren sich allein im sogenannten Hoetger-Hof. Im Gegensatz zu Darmstadt ordnen sich die einzelnen Objekte jedoch nicht zu einem Gesamtkunstwerk, das sich einem Thema unterordnet (wie dem Zyklus vom Leben und Sterben auf dem Platanenhain), sondern sind eine lose Sammlung.

Der Todestag von Bernhard Hoetger jährt sich am 4. Mai 2024 zum 150. Mal. Worpswede und Bremen planen zu diesem Anlass größere Sonderausstellungen. Da lohnt sich doch eine Reise – und der Vergleich. Denn Bezüge zu Darmstadt finden sich auch an anderen Stellen des reichen norddeutschen Hoetger-Oeuvres, man denke nur an das Grabmal für Paula Modersohn-Becker in Worpswede, das Vorbild für das Denkmal Sterbende Mutter mit Kind im Platanenhain war.


Lesetipp


Diedrichshof – Erstes Wohnhaus von Bernhard Hoetger in Worpswede.

Villa & Gästehaus Diedrichshof

Ostendorfer Straße 27, 27726 Worpswede

Tel.: 04792 – 933 10, www.diedrichshof.de

Von Mai bis Oktober ist der Garten an jedem 3. Sonntag von 14 – 17 Uhr geöffnet.

Museen Böttcherstraße

Paula Modersohn-Becker Museum, Ludwig Roselius Museum, Sammlung Hoetger

Böttcherstraße 6 -10, 28195 Bremen

Tel:042133882-22, http://www.museen-boettcherstrasse.de

Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags, 11 – 18 Uhr, montags geschlossen.


Bildnachweis: 23 Quer – Eigene Recherche und Material.


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