Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein war den Künsten sehr zugewandt: Zuvorderst der bildenden und angewandten Kunst, die er in den vier Ausstellungen von 1901 bis 1914 auf der Mathildenhöhe zum Strahlen und Ruhm brachte. Doch auch der Musik, dem Theater und der Dichtung galt seine Leidenschaft. Dabei war er nicht nur ein genießender Konsument, sondern betätigte sich selbst als Künstler: Er komponierte zahlreiche Klavierstücke, entwarf Bühnenbilder und widmete sich ebenso dem Schreiben von Lyrik. Ein Band mit vierzig Gedichten aus der Feder des Großherzogs, erstmals 1917 im renommierten Kurt Wolff Verlag anonym veröffentlicht, ist in diesem Jahr im Justus von Liebig Verlag in Darmstadt neu erschienen. Zum heutigen „Totensonntag“, sei daraus ein sehr persönliches zitiert:
Mein Tod
Wenn ich im Sterben liege
zu später Nacht,
so kleidet mich in weiße Wolle,
auf eine Bahre legt mich hin.
Über meine armen Glieder breitet
die schweren Falten eines feuerfarbenen Mantels.
Tragt mich dann
von Fackelschein umgeben,
aus des Hauses enger Schwüle.
Langsam steiget aufwärts
über Schutt, Geröll,
zwischen Felsenstarre höher, steiler,
bis des höchsten Berges Gipfel
bei dem letzten Sternenstrahl erklommen.
Auf dem äußersten der Felsen,
eingehüllt in meinen Mantel,
bettet mich, behutsam.
Wendet euch dann alle von mir!
Steiget nieder in die Täler,
keiner kehre je zurück.
Auf dem Fels auf Bergeshöhe
will ich warten,
stille harren,
bis die Erde ihre Augen öffnet!


Neben diesem Gedicht über seinen eigenen Tod hat Ernst Ludwig auch ein anderes über sein Grab geschrieben. „Dass ein Dichter sein eigenes Sterben antizipiert, ist ungewöhnlich. Es mag mit den Todesfällen in der Familie zusammenhängen, dass Ernst Ludwig seinen Tod nicht verdrängt, sondern bejaht“, stellt Rainer Hackel, Germanist aus Bad Nauheim und Herausgeber der Neuauflage, im Nachwort des Bandes fest. „Nur im Tod lebt der Mensch in der Wahrheit und hat seine Vollendung gefunden, die ihm im Leben verwehrt war.“ Ernst Ludwig hat im Alter von fünf Jahren den frühen Tod seines jüngeren Bruders Fritz erleben müssen, mit zehn den seiner Schwester Marie und seiner geliebten Mutter Alice und mit 23 Jahren den seines Vaters Ludwig IV – und auch schon den Tod eines eigenen Kindes, den seiner siebenjährigen Tochter Elisabeth 1903. Der Tod geliebter Menschen war ihm vertraut.
Bei der öffentlichen Präsentation der neu erschienenen „Verse“, die bereits am 31. Oktober im Ernst Ludwig-Haus stattfand, ging es aber nicht nur um die dunklen Seiten und Gedanken des Großherzogs. Wie Paul-Hermann Gruner, „1. Turmschreiber“ vom Förderkreis Hochzeitsturm, einführend herausstellte, hatte Ernst Ludwig zwar eine „Tendenz zur melancholischen Verschattung“, wird von seinen Verwandten aber auch als „denkbar lustigster Gesellschafter“ beschrieben. Die Schwägerin seiner ersten Frau stellte zudem fest: „Er hatte das Temperament eines Künstlers.“ Das war in seinen jungen Jahren.
Als er die „Verse“ 1917 veröffentlichte war er fast 49 Jahre alt, mitten im Ersten Weltkrieg als Regent und weniger als Künstler gefordert. Von den weltpolitischen Ereignissen und Umwälzungen ist in seinem Buch jedoch nichts zu spüren. Die Kunst war ihm, wie schon in seinen Kompositionen zu hören, eher eine Flucht aus dem Alltag, der an Schrecken zunahm. Die Verse behandeln wie seine Musik Tagesstimmungen wie „Mittag“, „Abend“, „Nacht“, oder sind voller Romantik, heißen „Sehnsucht“, „Seligkeit“ und „Mutterherz“. Sie sind stilistisch zwischen Symbolismus und Expressionismus einzuordnen. Eine Auswahl trug die Schriftstellerin Barbara Zeisinger, selbst Lyrikerin, beim lauschigen Abend im stilvollen Ambiente des Jugendstil-Foyers vor.
Ein besonderes Kapitel nehmen in dem Band seine Gedichte über Indien ein. Fast die Hälfte, genau 18, machen sie am Werk aus. Er griff indische Märchen und Legenden auf und schrieb ein eigenes: „Die Märchen der Edelsteine“, eine Sammlung von 11 Gedichten, die vom Feueropal bis zum Saphir funkeln. Hintergrund ist eine Reise, die der Großherzog – frisch geschieden und befreit von einer unglücklichen Ehe – zur Jahreswende 1902/1903 in das ferne Land antrat, und dort als Enkel der 1901 gestorbenen Kaiserin von Indien, Queen Victoria, allen Glanz und Pomp der Krone erlebte, aber auch spirituelle Erfahrungen machte, die ihn nachhaltig prägten. Wie sehr, dass ist in seinen Gedichten in jeder Zeile zu spüren. In Indien, so Herausgeber Hackel, begegneten ihm „Wunder und Schönheit und Verstehen“, während in Deutschland „Nüchternheit und Vorschriften und Kleinigkeiten“ auf ihn warteten.



Nur eine kleine Auflage von 230 Exemplaren wurde 1917 gedruckt, ohne den Namen des Autors zu nennen. Es war das Jahr, in dem Ernst Ludwig sein 25jähriges Regierungsjubiläum feierte. So wird dieses Büchlein eher als privates Geschenk gedacht gewesen sein, was auch ein vorangestelltes „Geleitwort an die Freunde“ vermuten lässt. Als Geschenk eignet es sich auch heute noch bestens. Thomas Reinheimer, Chef des Justus Liebig Verlags, freut sich zudem besonders darüber, das Werk mit den Schriftlettern und dem Satz von 1917 reproduziert zu haben. So kommen die neuen „Verse“ des Großherzogs dem Erscheinungsbild des Originals möglichst nahe.
„Verse“ des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868 – 1937)
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dr. Rainer Hackel, Bad Nauheim, 2024
180 Seiten, Softcover, Preis: 18,00 € | Justus von Liebig Verlag | ISBN: 978-5-87390-512-2
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