Olbrichs Erfindung: Ein Flügel mit acht Ecken

Der Gestaltungwille der Künstlerkolonie Darmstadt umfasste viele Bereiche des Lebens und machte auch vor der Musik nicht halt. Insbesondere reizte der Flügel als ein Musikinstrument, das viel Fläche für ornamentalen Schmuck bietet, zur künstlerischen Bearbeitung. War ein Flügel doch integraler Bestandteil der Wohnkultur großbürgerlicher Kreise, gehörte ein repräsentatives Musikzimmer zur Ausstattung eines jeden kunstbeflissenen Hauses. Ein solches besaß selbstverständlich auch Großherzog Ernst Ludwig in seinem Neuen Palais, das sich ehemals auf dem heutigen Georg-Büchner-Platz vor dem Staatstheater befand. Dort stand ab 1906 ein ganz besonderes Tasteninstrument: der „Olbrich-Mand-Flügel“. Erstmals öffentlich vorgestellt wurde er zur ersten Ausstellung der Künstlerkolonie von 1901 auf der Mathildenhöhe.

Eigentlich ist dieser spezielle Flügeltyp gar kein richtiger Flügel, denn ihm fehlt die charakteristische Flügelform, die dem Instrument überhaupt erst seinen Namen gegeben hat. Dieser Flügel hat acht Ecken und ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Joseph Maria Olbrich mit der vielfach prämierten Klavierbaufirma Mand aus Koblenz. Für die technische Innovation und die neue achteckige Form wurde vom Hersteller sogar ein Patent angemeldet.

Der „Olbrich-Mand-Flügel“ lässt sich vierteilig zusammenklappen und gibt dadurch den Klangraum in alle Richtungen frei. Im Gegensatz zu einem klassischen Flügel breitet sich der Schall in alle Richtungen aus. Das Publikum kann bei gleichem Hörvergnügen rund um den Flügel Platz nehmen, was sich für einem Musikabend in Salon-Atmosphäre als besonders vorteilhaft erweist. Der hier abgebildete achteckige Flügel aus Ebenholzfurnier fällt durch seine kostbaren Intarsien aus verschieden gefärbten Edelhölzern auf. Bei der Herstellerfirma Mand standen verschiedene Varianten mit unterschiedlichen Hölzern, Färbungen und Schmuck zu unterschiedlichen Preisen zur Auswahl, denn das Modell war durchaus für den Verkauf an breitere Käuferschichten konzipiert, nicht nur als exklusiver Entwurf für einen fürstlichen Besitzer.

Der Großherzog als Komponist: Wiederentdeckt vom Pianisten Andreas Hering

Großherzog Ernst Ludwig wird oft an seinem kostbaren „Olbrich-Mand-Flügel“ gesessen haben. Nicht nur zum Spielen auf der Klaviatur, sondern auch zum Komponieren eigener Werke. Von der musikalischen Begabung des Herrschers zeugte jüngst ein Klavierkonzert von Andreas Hering auf der Mathildenhöhe, das Ende April in den frisch sanierten Ausstellungshallen des UNESCO-Geländes aufgeführt wurde und das heute Abend ab 21:05 Uhr live im Deutschlandfunk (DLF) bundesweit zu hören war. Wer das parallele EM-Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gesehen hat, der kann sich das „Konzertdokument der Woche“ des DLF auch im nachhinein noch anhören. Es steht digital bereit unter

https://www.deutschlandfunk.de/konzertdokument-der-woche-100.html (97:37 Min).

In dem Konzertmitschnitt des Radiosenders erhält man zudem viel Hintergrundinformation über die Mathildenhöhe Darmstadt und ihre Geschichte, die Bauten der Künstlerkolonie und ihre denkmalpflegerischen Aspekte. Im Mittelpunkt steht aber der einzigartige Flügel sowie die Kompositionen des Großherzogs und seiner Zeitgenossen, zu denen Claude Debussy (1862 – 1918), Alexander Nikolajewitsch Skrjabin (1872 – 1915) sowie der von ihm sehr geschätzte Max Reger (1873 – 1916) gehörten, die allesamt ein ähnliches Geburtsjahr hatten wie Ernst Ludwig (1868 – 1937), aber sehr viel früher sterben mussten als er. Auch für sie war der Erste Weltkrieg das prägende Ereignis, wie für den Großherzog, der seine Musikstücke „Draußen – Sechs Stimmungen für Klavier“ mitten im Krieg, 1916, nach einem Besuch an der französischen Front komponierte. „Es ist schon erstaunlich, dass solch einfühlsame Musik vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs entstanden ist“, erläutert Philipp Gutbrod, Direktor des Institut Mathildenhöhe Darmstadt.

Für den Konzertpianisten Andreas Hering ist das Spielen auf dem historischen Instrument ein besonderes Erlebnis. „Der Olbrich-Mand-Flügel hat etwas sehr Edles im Klang, sehr samtig, weich. Silbrig. Es ist schwer zu beschreiben, man muss es spielen, fühlen.“ Auch bei den Kompositionen des Großherzogs sei „jeder Akkord eine Neuentdeckung“. Denn es gibt keine Referenzen, keine anderen Aufnahmen. Hering ist bisher der einzige Interpret, der sich das gesamte Werk von Ernst Ludwig erarbeitet und gespielt hat. Seine „Stimmungen“ seien eine große Entdeckung, stilistisch vielseitig, mit vielen musikalischen Einflüssen, was auch auf der gleichnamigen CD von Andreas Hering zu hören ist.

So war es ein ganz besonderes Konzert, das seltene Töne zum Klingen brachte und einen dabei auch tief in die Gefühlswelt eines Herrschers blicken ließ, der sich vor dem Kriegsgeschehen um ihn herum in die Musik flüchtete, sie als Rückzugsort ansah, und solche Stimmungen wie „Heimweh“, „Kindergeplauder“ oder „Sehnsucht“ vertonte. Das sei bewegend, meint sein Interpret. Wie auch die Regieanweisung „Trotzig!“, die laut Hering im letzten Stück „Hoffnung“ (auf den Frieden) von Ernst Ludwig zu lesen sei, und die er zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht ganz aufgegeben hatte.

„Grundton D“: Benefizkonzert für den Denkmalschutz und das Lilienbecken

Freuen über das Konzert durfte sich die Leiterin des Darmstädter UNESCO-Welterbes, Gabriele König, für das Lilienbecken auf der Mathildenhöhe. Denn sämtliche Eintrittsgelder des Konzerts gehen in die notwendige Sanierung des UNESCO-Baus von Albin Müller von 1914. Da es nach dem schnellen Ausverkauf des ersten Konzerts gleich ein zweites Zusatzkonzert gab, hat sich der Einsatz doppelt gelohnt – und der selten gespielte, achteckige „Olbrich-Mand-Flügel“ seinen großen Auftritt. Bevor er wieder zurückkam in das neue Kunst-Depot der Stadt Darmstadt, wo er gut eingepackt und gepolstert in Grün neben anderen historischen Klavier-Instrumenten wieder seinen Lagerplatz einnahm.

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Ein Kommentar zu „Olbrichs Erfindung: Ein Flügel mit acht Ecken

  1. Wirklich schade, dass so ein tolles Instrument versteckt im Archiv steht. Wäre es nicht toll, dieses Instrument, evtl. hinter Plexiglas geschützt, im großen Haus Glückert in die Eingangshalle zu stellen? Ich meine mal gelesen zu haben, dass dort ein Flügel stand.

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