PS.: Patriz Huber – Drama bis zum letzten Sch(l)uss

In diesem Garten hinter einer prächtigen Gründerzeitvilla in Berlin-Charlottenburg lebte und arbeitete Patriz Huber in den letzten Monaten seines Lebens. Nachdem der Vertrag für das hochgelobte Talent der Darmstädter Künstlerkolonie „nach Querelen“ nicht verlängert wurde, bezog er auf diesem Gelände ein bescheidenes Gartenatelier. Auf diese Fenster wird er wohl tagtäglich geblickt haben. So auch an dem Tag, an dem er sich mit einem Revolver erschoss. Doch das Drama war mit seinem Tod am 20. September 1902 noch längst nicht zu Ende. Es fand seine Fortsetzung in einem Zug von Berlin nach Neustrelitz.

Ein modernes Trauerspiel. Der Selbstmord Patriz Hubers hat ein zweites tragisches Ereignis veranlaßt. Wie telegraphisch gemeldet wird, hat in Darmstadt der Freund des jungen Künstlers, auf dessen Besuch Hubers That zurückgeführt wird, gleichfalls Hand an sich selbst gelegt. Der Unglückliche war Redakteur in dem Kunstverlage von Koch in Darmstadt; er hatte sich mit der Geliebten Hubers verlobt und Patriz Huber in Berlin aufgesucht, um ihn von diesem Schritt selbst zu verständigen. Nun hat auch ihn die Verzweifelung über den Tod des Freundes zum Selbstmord getrieben. (Berliner Tageblatt, Donnerstag, 25. September 1902, Seiten 2/3)

So erfährt man in Berlin erstmals von der tragischen Fortsetzung des Dramas, das mit dem Selbstmord des verzweifelten Patriz Hubers seinen Anfang nahm: Felix Commichau, von dem es leider kein Bild gibt, ist seinem Freund nur wenige Tage später in den Tod gefolgt. Über die „Affaire Huber – Commichau“, wie man das Geschehen nun betitelt, wird deutschlandweit berichtet, in Darmstadt und in Mainz, aber auch in Frankfurter und Münchner Zeitungen findet sie ein großes Medienecho – sie wird zur überregionalen Nachricht. Das Darmstädter Tagblatt publiziert zum Wochenende weitere Details des zweiten Selbstmords in Folge und zitiert dabei den „Berliner Lokal-Anzeiger“. Demnach hat sich der Redakteur nicht in Darmstadt das Leben genommen wie noch anfangs gemeldet, sondern auf dem Weg in das hundert Kilometer nördlich von Berlin gelegene Neustrelitz:

Commichau hatte am Mittwoch mittag auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin einen Zug bestiegen, der nach Neustrelitz fuhr. Kurz vor der Endstation jagte er sich eine Revolverkugel in die Schläfe. In der Kleidung des Lebenden fand man eine Fahrkarte Berlin-Saßnitz, ferner einen Barbetrag von etwa 30 Mk., sowie eine Anzahl Briefe mit dem Poststempel Magdeburg und Darmstadt. (Letztere Angabe ist bestätigt.) C. hatte den kurzen Aufenthalt auf der Durchgangsstation Fürstenberg dazu benutzt, um sich von dem Schaffner des Abteils einen Bleistift zu leihen und einen Zettel zu schreiben, in dem er den Wunsch ausdrückte, in Neustrelitz beerdigt zu werden und seine in Dresden wohnende Schwester von seinem Tode zu unterrichten. (Darmstädter Tagblatt, Samstag, 27. 9.1902, 7. Beilage, Seite 30)

Wer ist die Dritte im Bunde? Wer war die Dame zweier Männerherzen?

Nach den ersten Nachrichten begannen sogleich die Spekulationen: Wer ist die geheimnisvolle Frau, die zwei Männer so sehr in ihren Bann zog, dass dieses gleich zwei Selbstmorde zur Folge hatte? War sie ähnlich von großen Schuldgefühlen gegenüber Huber geprägt wie scheinbar Commichau? 23 Quer ist es bis Redaktionsschluss nicht gelungen, den Namen der Dame zu lüften. Das wird nachgereicht. Denn er wurde anscheinend öffentlich gemacht. Soviel war aber bislang über sie herauszufinden:

  • Huber stand kurz vor der Verlobung mit einer Dame seiner Heimatstadt Mainz. Die Verlobung ging indessen zurück und die Dame verlobte sich mit dem besten Freunde Hubers. (Darmstädter Tagblatt: Mittwoch, 24.09.1902, 4. Beilage, Seite 18)
  • Die Frau, um deren Liebe willen zwei hoffnungsvolle Männer aus dem Leben gingen, ist die Witwe eines bekannten Verlagsbuchhändlers. (Berliner Neueste Nachrichten: Freitag, 26.09.1902, Seite 3)

Besonders eingehend hat sich ein damals bekannter Berliner Feuilletonist, der in Mainz geborene Friedrich Dernburg, mit der „Frauenfrage“ in diesem Zusammenhang beschäftigt:

Où est la femme ! Die Zeitungen haben sie genannt; auch konnte sie, die Heroin dieses Doppeldramas, als die Ueberbliebene dieses Trios, über das das Publikum zu Gericht sitzt, nicht verborgen bleiben. Es wäre voreilig, von einer Schuld bei ihr zu sprechen. Wer kann von vornherein sagen, ob das Bild, welches Patriz Huber sich von seinen Beziehungen zu ihr machte, der Wirklichkeit entsprach? Ob er das Band, welches sie vereinigte, nicht überschätzt hat? Eins ist klar: Sie hat gleichzeitig als eine Frau, die über die erste Blüthe weg ist, zwei junge Männer fasziniert, und es waren sicher nicht die einzigen, die ihrem seltsamen Reize unterlagen. Wäre das Wort nicht so verbraucht, man möchte von dem dämonischen Weibe reden. (Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Sonntag, 28.9.1902, Seiten 5/6: Friedrich Dernburg, Feuilleton, Nachruf)

Nun, ob das „dämonische Weib“ hier in Verantwortung zu nehmen sei, dürfte heute ungestraft nicht mehr formuliert und erst Recht nicht über deren „seltsamen Reize“ spekuliert werden. Der Zeitgeist von 1902 spricht in diesen Zeilen Bände. Friedrich Dernburg befindet in seinem langen Nachruf auf Patriz Huber aber auch Folgendes: Es laufen vielerlei Motive zusammen, die zu dem kläglichen Ausgang führten; man muss mit sehr spitzen Fingern zugreifen, wenn man sie reinlich auseinanderwirren will. Daß indessen ist klar:

[E]s war sehr viel Helles, Schönes, Ganzes in dieser jungen Seele. […] Er hätte in Darmstadt bleiben sollen. Dort, an der Entwicklungsstätte seines jungen Ruhmes, saß er wohleingebettet in Ansehen, in Liebe und Freundschaft.

Friedrich Dernburg

Wenn man das tragisch-traurige und tödliche Ende des jungen Mannes betrachtet, muss man ihm rückblickend wohl Recht geben. Vielleicht war der begabte Künstler tatsächlich überfordert mit seiner neuen Situation in Berlin. Der Darmstädter Verleger und Förderer Hubers, Alexander Koch, sah das anders. Er hat in der Folge publizistisch alles dafür getan, Huber und seinen Mitarbeiter Commichau in Schutz zu nehmen. Insbesondere hat er einen ganzseitigen Nachruf auf beide in seiner Zeitschrift „Deutsche Kunst und Dekoration“ geschrieben, der bereits in der nächsten Ausgabe vom November 1902 veröffentlicht wurde.

Darin verwehrt er sich deutlich gegen jegliches Ansinnen, den Selbstmord Hubers als „die Folge künstlerischer Überhebung und Enttäuschung hinzustellen“. Das war von den Berliner Medien in den Raum gestellt worden, und stellte indirekt einen Vorwurf auch an ihn selbst dar, der seinen Schützling überschätzt habe, und seine Zukunft – auch die in Berlin – zu rosig gezeichnet hätte. Sprich, Koch wäre mitschuldig an zu überzogenen Erwartungen Hubers, die eigentlich nur hätten enttäuscht werden können.

Das konnte Verleger Koch natürlich nicht so stehen lassen. Noch viele Jahre nach dem Tod seines Schützlings, hat er Patriz Hubers Entwürfe und Arbeiten in seinen Medien präsentiert, ihm sogar eine ganze Sonderausgabe in der „Deutsche Kunst und Dekoration“ (1903/1904) gewidmet, um seine große Begabung nochmals zu belegen. In dieser wurde etwa Hubers architektonischer Nachlass ausführlich gezeigt, ebenfalls waren in langen Beiträgen Beispiele seiner Innenarchitektur und Möbel zu sehen, wie etwa dieser große Redaktionsschrank, den er für seinen „Schicksalsfreund“ Commichau noch in seinen Darmstädter Zeiten entworfen hatte und anfertigen ließ.

Ein eigener Artikel galt seinen Metallarbeiten, die der für das Ornament so talentierte Künstler in großer Zahl und unbändiger Kreativität zeitlebens entwarf und die auch in Darmstadt zur 1. Ausstellung der Künstlerkolonie 1901 im Ernst Ludwig-Haus auf der Mathildenhöhe zu sehen waren (siehe auch Teil I dieser Serie). Auch über die Arbeiten seines Bruders Anton Huber wie seiner ebenfalls künstlerisch arbeitenden Schwestern finden sich in den Koch-Publikationen in den Folgejahren Artikel.

In Darmstadt wie in Mainz wird öffentlich getrauert

Der Tod von Patriz Huber und Felix Commichau hat in der Öffentlichkeit des Großherzogtums Hessen und bei Rhein, zu dem Mainz damals ebenfalls gehörte, sehr große Betroffenheit und Interesse ausgelöst:

Das Schicksal der beiden in den Tod getriebenen jungen und hoffnungsvollen Leute erweckt hier allgemeinste Teilnahme.

Darmstädter Tagblatt, 26.9.1902

Zur Beerdigung von Patriz Huber am Mittwoch, den 24. September 1902, in Mainz fand sich eine „ungeheure Menschenmenge“ entlang der Straßen ein, um den Trauerzug mit dem Leichnam vom Bahnhof zum Friedhof zu begleiten. Über diese Beerdigung wird 23 Quer im Herbst nochmal gesondert berichten – sie war denkwürdig, soviel kann jetzt schon verraten werden.

Von den ehemaligen Kollegen der Künstlerkolonie Darmstadt waren Hans Christiansen sowie Peter Behrens bei der Beerdigung anwesend. Der Medailleur Rudolf Bosselt hat zudem eine Erinnerungsplakette aus Bronze mit dem Antlitz Patriz Hubers angefertigt, die heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt in der der Jugendstilsammlung zu sehen ist. Von Joseph M. Olbrich, dem leitenden Architekten der Künstlerkolonie Darmstadt, oder gar vom Großherzog Ernst Ludwig, der den Vertrag des Künstlers 1902 nicht verlängert hatte, sind keinerlei Stellungnahmen zur „Affaire Huber – Commichau“ bisher bekannt geworden.

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Das komplette Patriz Huber-Spezial: Tragödie in vier Akten

Teil I – Der Anfang: Patriz Huber – so jung, so reif, so begabt (27. Januar 2024)

Teil II – Das Ende: Patriz Huber – voller Pläne, so enttäuscht (3. Februar 2024)

Teil III – P.S.: Patriz Huber – Drama bis zum letzten Sch(l)uss (13. Februar 2024)

Teil IV – Trauer in Mainz: Patriz Hubers bizarre Beerdigung (22. November 2024)


Zeitgenössische Quellen:

Felix Commichau: Patriz Huber, Darmstadt In: Alexander Koch (Hrsg.): Die Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie, Ein Dokument Deutscher Kunst, Darmstadt, 1901 (Großherzog Ernst Ludwig und die Ausstellung der Künstler-Kolonie in Darmstadt von Mai bis Oktober 1901), Nachdruck des originalen Ausstellungskatalogs, Verlag zur Megede, Darmstadt, 1989, S. 150 – 177.

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung – Montag, 22.9.1902 (Seite 3 und 4): Vst. Patriz Huber Ϯ, Mysteriöser Selbstmord | Dienstag, 23.9.1902 (Seite 3): Patriz Huber Selbstmord | Donnerstag, 25.9.1902: Ein modernes Trauerspiel (Seite 2/3) | Sonntag, 28.9.1902: Patriz Huber, Von Friedrich Dernburg, Feuilleton, (Nachruf), Seite 5/6.

Berliner Neueste Nachrichten – Montag, 22.9.1902: Selbstmord eines Künstlers (Seite 3) | Freitag, 26.9.1902: Der Freund Patriz Hubers (Seite 3).

Darmstädter Tagblatt – Alle Ausgaben von Montag, 22.9.1902 bis Samstag, den 4.10.1902; Hier zitiert aus Donnerstag, 2.10.1902, 3. Beilage, Seite 18 (Alexander Koch); lesbar auf Mikrofilm in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Darmstadt.

Deutsche Kunst und Dekoration – Bd. 11, 1902: Patriz Huber und Felix Commichau Ϯ, Nachruf von Alexander Koch, Seite 119 | Bd. 13. 1903/1904: Westend zu Posen. Patriz Huber und das Eigenhaus, Seiten 277ff.

Innen-Dekoration – 1904: Aus Patriz Hubers künstlerischem Nachlass. Seiten 305-310.

Wissenschaftliche Quellen:

Renate Ulmer: Patriz Huber – Ein Mitglied der Darmstädter Künstlerkolonie, Katalog zur Ausstellung auf der Mathildenhöhe Darmstadt, 1992. (Dieser Katalog der langjährigen Kuratorin und 2023 verstorbenen stellvertretenden Direktorin des Institut Mathildenhöhe Darmstadt, IMD, gilt bis heute als Standardwerk zu Leben und Wirken Patriz Hubers, einsehbar in der ULB Darmstadt, sonst nur noch antiquarisch erhältlich.)

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